Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
nichts anderes übrig blieb. Und je mehr sie trinken, desto schwerer fällt ihnen das Vergessen und umso größer wird das Bedürfnis, auf etwas oder jemanden einzuprügeln – ein fairer Kampf, Mann gegen Mann. Dreckige Türken, dreckige Hunnen, dreckige Schweinekerle.
Und da kommt ihnen Frank Roennfeldt wie gerufen. Der einzige Deutsche in der Stadt, nur dass er Österreicher ist. Er ist der beste Feindesersatz, den sie finden können. Und als sie ihn abends mit Hannah die Straße entlangschlendern sehen, fangen sie an »Tipperary« zu pfeifen, die Hymne der britischen Soldaten. Hannah wird nervös und gerät ins Stolpern. Sofort nimmt Frank ihr Grace ab, greift nach der Strickjacke, die seine Frau über dem Arm trägt, bedeckt das Baby damit. Dann gehen die beiden rasch und mit gesenktem Kopf weiter.
Die Männer im Pub bekommen Spaß an der Sache und strömen hinaus auf die Straße. Die Burschen aus den anderen Pubs entlang der Main Street folgen ihnen, und dann kommt einer auf die witzige Idee, Frank den Hut vom Kopf zu reißen, was er auch prompt tut.
»Ach, lassen Sie uns doch in Ruhe, Joe Rafferty!«, schimpft Hannah. »Gehen Sie zurück in den Pub.« Mit diesen Worten beschleunigen sie ihren Schritt.
»Lassen Sie uns in Ruhe!«, äfft Joe sie mit Falsettstimme nach. »Dreckiger Fritz! Ihr seid doch alle gleich, nichts als Feiglinge!« Er wendet sich an die Menschenmenge. »Und jetzt schaut euch die beiden mit ihrem niedlichen kleinen Baby an.« Seine Sprache ist verwaschen. »Wusstet ihr, dass die Deutschen Babys gefressen haben? Diese Schweine haben sie bei lebendigem Leibe gebraten.«
»Verschwinden Sie, oder wir holen die Polizei!«, ruft Hannah. Im nächsten Moment erstarrt sie beim Anblick der beiden Constables Harry Garstone und Bob Lynch, die, Bierseidel in der Hand und ein hämisches Grinsen unter ihren gewachsten Schnurrbärten, auf der Veranda des Hotels stehen.
Der Zorn entlädt sich so plötzlich, als hätte jemand ein Streichholz angezündet. »Los, Jungs, wir wollen uns einen kleinen Spaß mit den Hunnenfreunden machen!«, erhebt sich ein Schrei. »Lasst uns verhindern, dass das Baby gefressen wird.« Ein Dutzend Betrunkene heftet sich an die Fersen des Paares. Hannah kann nicht mithalten, weil sie wegen ihres Korsetts nicht richtig Luft bekommt. »Grace, Frank!«, ruft sie. »Rette Grace!« Er flieht mit dem kleinen Bündel vor dem Mob, der ihn die Straße hinunter zum Anlegesteg treibt. Das Herz klopft ihm bis zum Halse und gerät aus dem Takt, und ein Schmerz schießt ihm durch den Arm, als er die wackeligen Bohlen entlanghastet und in das erstbeste Ruderboot springt. Er rudert hinaus aufs Meer, wo er in Sicherheit ist. Nur, bis die Leute zur Vernunft gekommen sind und wieder Ruhe einkehrt.
Er hat schon Schlimmeres erlebt.
Kapitel 18
Während Isabel ihren täglichen Pflichten nachgeht – immer in Bewegung, immer beschäftigt –, spürt sie körperlich, wo Lucy gerade ist, so als seien sie durch einen unsichtbaren Liebesfaden miteinander verbunden. Nie ist sie ungehalten – ihre Nachsicht mit dem Kind ist grenzenlos. Ob nun Essen auf den Boden fällt oder schmutzige Fingerabdrücke die Wände verunzieren, niemals fällt ein harsches Wort oder ein zorniger Blick. Wenn Lucy nachts weinend aufwacht, tröstet Isabel sie liebevoll. Sie hat das Geschenk angenommen, das das Leben ihr gemacht hat. Und damit auch die Lasten.
Wenn das Kind nachmittags schläft, geht sie zu den Holzkreuzen an der Landzunge. Hier ist ihre Kirche, ihr geweihter Ort, wo sie um Beistand betet und darum, eine gute Mutter zu sein. Sie spricht auch ein allgemein gehaltenes Gebet für Hannah Roennfeldt. Isabel hat nicht das Recht, die Wendungen des Schicksals infrage zu stellen. Hier draußen ist Hannah nur ein vager Gedanke. Sie hat keinen Körper, keine Präsenz, während Lucy … Isabel kennt jede ihrer Gesten und Rufe. Sie ist Zeugin des Wunders, dass sich dieses kleine Mädchen von Tag zu Tag weiterentwickelt, wie ein Wunder, das erst im Laufe der Zeit Gestalt annimmt. Eine völlig neue Persönlichkeit zeigt sich, als das Mädchen anfängt, Wörter zu verstehen und zu benutzen und auszudrücken, was es empfindet und wer es ist.
Und so sitzt Isabel in ihrer Kapelle ohne Wände, Fenster und Pastor und dankt Gott. Und wenn Gedanken an Hannah Roennfeldt sich einschleichen, ist ihre Reaktion stets dieselbe: Sie kann Lucy einfach nicht fortschicken. Sie hat nicht das Recht, Lucys Glück aufs Spiel zu setzen.
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