Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
einen Seite des Saals. Bill Graysmark hatte Lucy, die Kinderreime plapperte, auf dem Knie.
»Denk nur an das Freibier, mein Junge«, raunte Ralph Tom zu. »Nicht einmal Jock Johnson kann heute Abend ewige Vorträge halten – die Sachen bringen ihn sicher fast um.« Er wies mit dem Kopf auf den kahlköpfigen, schwitzenden Mann, der eine Robe mit Hermelinkragen und die Bürgermeisterkette trug, hin und her lief und sich darauf vorbereitete, zu den Anwesenden in dem windschiefen Rathaus zu sprechen.
»Ich komme gleich wieder«, sagte Tom. »Ein menschliches Bedürfnis.« Mit diesen Worten steuerte er auf die Toilette hinter dem Gebäude zu.
Auf dem Rückweg fiel ihm eine Frau auf, die ihn anzustarren schien.
Er sah nach, ob er sich auch richtig die Hose zugeknöpft hatte, und blickte sich um, nur für den Fall, dass sie jemand anderen meinte. Doch sie beobachtete ihn weiter und sprach ihn an, als er näher kam. »Sie erinnern sich nicht mehr an mich, richtig?«
Tom musterte sie noch einmal. »Tut mir leid, ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem.«
»Es ist inzwischen lange her«, erwiderte sie, wobei sie errötete. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck veränderte sich, und er erkannte das Gesicht des Mädchens wieder, dem er auf seiner ersten Fahrt nach Partageuse auf dem Schiff beigestanden hatte. Sie war gealtert und abgemagert und hatte dunkle Augenringe, sodass er sich fragte, ob sie wohl an einer Krankheit litt. Er hatte sie noch im Nachthemd vor sich, die Augen ängstlich aufgerissen und von einem betrunkenen Narren an die Wand gedrängt. Es war die Erinnerung eines anderen Menschen und aus einem anderen Leben. Im Laufe der Jahre hatte er sich hin und wieder gefragt, was wohl aus ihr geworden war. Und aus dem Schwachkopf, der sie belästigt hatte. Bis jetzt hatte er den Zwischenfall nie, nicht einmal Isabel gegenüber, erwähnt, und sein Instinkt sagte ihm, dass es jetzt wohl zu spät dazu war.
»Ich wollte mich nur bedanken«, begann die Frau, wurde aber von einer Stimme an der Hintertür des Gebäudes unterbrochen. »Wir fangen gleich an. Am besten kommst du jetzt.«
»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte Tom. »Ich muss los. Vielleicht sehen wir uns ja später.«
Sobald er seinen Platz auf der Bühne eingenommen hatte, begann die Veranstaltung. Reden wurden gehalten. Einige der älteren Leuchtturmwärter erzählten Anekdoten. Und dann wurde ein Modell des ursprünglichen Leuchtturms enthüllt.
»Dieses Modell«, verkündete der Bürgermeister stolz, »wurde von unserem edlen Spender Mr. Septimus Potts gestiftet. Ich freue mich, Mr. Potts und seine charmanten Töchter Hannah und Gwen heute Abend bei unserer kleinen Zusammenkunft begrüßen zu dürfen, und fordere Sie auf, sich auf die althergebrachte Art bei ihm zu bedanken.« Er wies auf einen älteren Herrn, der zwischen zwei Frauen saß. Die erste war, wie Tom zu seiner Bestürzung feststellte, das Mädchen vom Schiff. Er warf einen Blick auf Isabel, die, ein steifes Lächeln auf den Lippen, mit dem übrigen Publikum applaudierte.
Der Bürgermeister fuhr fort. »Und natürlich, meine Damen und Herren, haben wir heute Abend auch den derzeitigen Leuchtturmwärter von Janus, Mr. Thomas Sherbourne, hier. Sicher möchte Thomas gerne ein paar Worte über das Leben auf Janus Rock sagen.« Er wandte sich zu Tom um und winkte ihn zum Rednerpult.
Tom erstarrte. Niemand hatte eine Rede erwähnt. Außerdem drehte sich ihm von der Erkenntnis, dass er Hannah Roennfeldt schon einmal begegnet war, noch immer der Kopf. Das Publikum klatschte. Der Bürgermeister winkte wieder, diesmal ein wenig nachdrücklicher. »Kommen Sie, alter Junge.«
Kurz fragte sich Tom, ob alle Ereignisse seit dem Tag, an dem das Boot angeschwemmt worden war, nur ein Teil eines schrecklichen Albtraums gewesen sein könnten. Doch im Zuschauerraum konnte er Isabel, die Potts und Bluey klar, deutlich und unentrinnbar erkennen. Er erhob sich mit klopfendem Herzen und ging zum Rednerpult, wobei er sich fühlte wie auf dem Weg zum Galgen.
»Uff«, begann er, was ihm Gelächter vom Publikum einbrachte. »Ich habe nicht damit gerechnet.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab und hielt sich dann am Rednerpult fest. »Das Leben auf Janus heute …« Gedankenverloren hielt er inne und setzte noch einmal an. »Das Leben auf Janus heute …« Wie sollte er die Einsamkeit erklären? Wie konnte er jemandem die Welt dort draußen begreiflich machen, die so weit von der Lebenswirklichkeit
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