Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
torkelte den Landungssteg hinunter wie ein Betrunkener und brauchte eine Weile, um sich an den festen Boden unter den Füßen zu gewöhnen. Die anderen gingen ebenfalls von Bord.
»Thomas Edward Sherbourne?«
»Richtig.«
»Sergeant Spragg, Polizei von Albany. Das ist mein Assistent Constable Strugnell. Sergeant Knuckey und Constable Garstone kennen Sie ja vielleicht aus Point Partageuse.«
»Hatte noch nicht das Vergnügen.«
»Mr. Sherbourne, wir sind wegen Frank Roennfeldt und seiner Tochter Grace hier.«
Es war wie ein Magenschwinger, der Tom kurz den Atem verschlug. Sein Hals verspannte sich, und er wurde schlagartig kreidebleich. Das Warten war vorbei. Es war, als würde nach tagelangem Verharren im Schützengraben endlich der Befehl zum Angriff gegeben.
Der Sergeant holte etwas aus seiner Tasche – ein Stück Pappe, das im heftigen Wind flatterte, sodass er es mit beiden Händen festhalten musste.
»Erkennen Sie das, Sir?«
Tom griff nach dem Foto, das die Rassel darstellte, und schaute zur Klippe hinauf, während er überlegte, was er antworten sollte. Isabel war fort. Die Zeit balancierte auf einer Nadelspitze – danach würde es kein Zurück mehr geben.
Er seufzte tief und wie von einer Zentnerlast befreit, schloss die Augen und senkte den Kopf. Im nächsten Moment spürte er eine Hand auf der Schulter. Sie gehörte Ralph. »Tom, Tom, mein Junge … Was zum Teufel ist passiert?«
Während die Polizisten Tom befragen, zieht Isabel sich zu den kleinen Kreuzen an der Klippe zurück. Die Rosmarinbüsche verschwimmen ihr immer wieder vor Augen und scheinen ebenso flüchtig wie ihre Gedanken. Zitternd lässt sie die Szene noch einmal Revue passieren: Der kleinste und jüngste der Polizisten hat ihr mit sehr ernster Miene das Foto gezeigt. Sicher ist ihm nicht entgangen, wie ihre Augen sich weiteten und wie ihr beim Anblick des Bildes die Luft wegblieb.
»Jemand hat die Rassel letzte Woche an Mrs. Roennfeldt geschickt.«
»Letzte Woche?«
»Offenbar dieselbe Person, die ihr vor etwa zwei Jahren einen Brief geschrieben hat.«
Diese letzte Eröffnung überstieg ihre Vorstellungskraft.
»Nachdem wir mit Ihrem Mann gesprochen haben, möchten wir auch Ihnen ein paar Fragen stellen. Bis dahin sollten Sie vielleicht …« Verlegen zuckte er die Achseln. »Bleiben Sie in der Nähe.«
Isabel schaut über die Klippe hinaus: So viel Luft, und dennoch ringt sie nach Atem, als sie sich ausmalt, wie Lucy ihren Mittagsschlaf hält, während die Polizei im Nebenzimmer ihren Vater verhört. Sie werden sie mitnehmen. Ihre Gedanken überschlagen sich: Sie könnte sie irgendwo auf der Insel verstecken. Sie könnte … Sie könnte mit ihr im Boot wegfahren. Sie rechnet rasch nach … Das Rettungsboot ist immer startklar. Wenn sie so tun kann, als würde sie Lucy fortbringen … Nur wohin? Irgendwohin, es spielt keine Rolle. Sie kann das Mädchen ins Boot setzen, und dann werden sie die Insel verlassen, bevor jemand ihr Verschwinden bemerkt. Und wenn sie in die richtige Strömung geraten, werden sie nach Norden fahren … Sie sieht vor sich, wie sie beide irgendwo weit weg in Richtung Perth an Land gehen, gemeinsam und in Sicherheit. Doch dann meldet sich die Logik, die ihr die Risiken der südlichen Strömung und den sicheren Tod im Südpolarmeer vor Augen hält. Hastig denkt sie über andere Auswege nach. Sie kann schwören, dass sie das Kind selbst zur Welt gebracht hat und dass die Jolle mit zwei Leichen an Bord angeschwemmt wurde. Sie haben nur die Rassel behalten. Isabel klammert sich an jede Möglichkeit, so weit hergeholt sie auch sein mag. Immer wieder kehrt derselbe Gedanke zurück: Ich muss Tom fragen, was zu tun ist. Im nächsten Moment wird ihr übel, wenn ihr einfällt, dass sie das alles nur Tom zu verdanken hat. Es ist wie damals, als sie nachts aufgewacht ist, nachdem sie vom Tod ihres Bruders Hugh erfahren hatte: Ich muss Hugh diese schreckliche Nachricht überbringen.
Allmählich findet sich ein Teil von ihr damit ab, dass es kein Entrinnen gibt, und die Furcht wird von Wut abgelöst. Warum? Warum konnte er die Dinge nicht so belassen, wie sie waren? Tom hat die Pflicht, seine Familie zu beschützen, nicht, sie auseinanderzureißen. Auf einer Ebene tief unterhalb ihres Bewusstseins ist ein zähflüssiges Gefühl aufgewühlt worden und sucht nun nach einem sicheren Hafen. Ihre Gedanken trudeln in die Dunkelheit … Er plant das schon seit zwei Jahren. Wer ist dieser Mann, der die Stirn
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