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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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Diener der Götter empfangen und ebenfalls ihr Leben dahingehen, um ihnen ewiges Leben zu spenden. Zurück bleibt ein trauernder Mann in einem leeren Haus, der seine Habseligkeiten zusammenrafft und den Ort verlässt, in dem nun nur noch der Schatten und der Sand wohnen. Er sieht das Fläschchen nicht, hinten auf dem Bord, und es bleibt zurück.

    An Annas Bett klingelte mitten in der Nacht das Telefon. Es war wenige Minuten nach halb vier. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und fragte sich, wo sie war. Ihr Traum hielt sie noch eine Weile umfangen – sie schien wesenlos zu schweben –, dann war er fort. Sie behielt noch nicht einmal das Geräusch einer Sandale oder das Wispern eines Leinenkleids in Erinnerung. Verwirrt blickte sie sich um, dann kam es ihr wieder in den Sinn. Sie standen auf, um durch die Wüste zu fahren, 280 Kilometer südwärts von Assuan, nach Abu Simbel. Dem Weckruf durch das Telefon folgte ein Klopfen an der Tür. Eine Tasse Tee wurde gebracht. Anna sprang schnell in ihre Kleidung, Jeans und ein T-Shirt und noch einen Pulli gegen die Nachtkälte, dann verließ sie ihre Kabine, um Omar zu suchen. Er zuckte nur mit den Schultern, als sie ihm erklärte, dass sie nicht mitfahren wolle. Inschallah! Es war ihr überlassen. Sie sollte Ibrahim sagen, dass sie Mahlzeiten brauchte, und ansonsten ihre Ruhe genießen.
    Andy stand nah bei der Rezeption, wo sich die Passagiere in schläfrigen Gruppen einfanden, um an Land zu gehen. Als er sie sah, blickte er finster drein und wandte sich ab. Nun, es war gut, dass er sie gesehen hatte. Er würde annehmen, dass sie mit den anderen im Bus wäre. Wenn er schließlich herausfand, dass sie keineswegs mit den anderen im Bus saß, war es zu spät für ihn, sich umzuentscheiden und mit ihr zurückzubleiben.
    Als sie Serena sah, die sich müde ihre Übernachtungstasche über die Schulter hängte, flüsterte sie ihr zu, wie sie sich entschieden hatte. Serena nickte. War sie nicht vielleicht sogar ein bisschen erleichtert?, dachte Anna. Toby konnte sie nicht sehen, aber die Passagiere strömten bereits über die Gangway auf das stille Schiff, das neben ihrem festgemacht hatte, wo sie durch leere Aufenthaltsräume und Flure, die widerlich nach kaltem Zigarettenrauch und schalem Bier rochen, zur zweiten Gangway gehen konnten, die an Land führte. Dort erwartete sie ein kleiner Bus, der sie zum Treffpunkt brachte, wo sich jeden Morgen ein Konvoi von Bussen und Taxis versammelte, um mit einer Eskorte südwärts durch die Wüste zu fahren, die zugleich militärisches Gebiet war.
    Als sie alle gegangen waren, stand Anna noch ein Weilchen da, horchte auf die Stille und überlegte wehmütig, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Mit einem Achselzucken kehrte sie zu ihrer Kabine zurück.
    An der Tür zögerte sie einen Moment, unsicher, was sie vorfinden würde, wenn sie sie öffnete. Sie holte tief Luft, griff mit einer Hand nach dem goldenen Anhänger an ihrem Hals und stieß die Tür auf. Die Kabine war leer.
    Als sie später erwachte, lag sie angekleidet auf dem Bett.
    Einen Augenblick war sie ratlos, dann merkte sie, dass irgendetwas auf dem Schiff anders war als sonst. Dann fiel es ihr ein. Sie konnte die Leere um sich her spüren, die verlassenen Kabinen, das Fehlen der üblichen Geschäftigkeit. Omar hatte ihr gesagt, dass nur zwei oder drei Männer der Besatzung an Bord bleiben würden, während die anderen die Gelegenheit wahrnehmen wollten, die paar Tage vor der Rückreise nach Luxor an Land zu gehen. Soweit sie wusste, war sie die einzige Passagierin, die nicht an der Fahrt nach Abu Simbel teilnahm und auf dem Schiff geblieben war.
    Langsam stand sie auf. Sie war sich nicht sicher, wo sie ihre Suche nach dem Tagebuch anfangen sollte, aber Andys Kabine schien der naheliegendste Ort. Entweder hatte sie es beim ersten Mal übersehen, oder, wenn es nicht dagewesen war, so war es vielleicht jetzt da.
    Um hineinzukommen, würde sie einen Schlüssel brauchen.
    Wie sie erwartet hatte, war das Schiff vollkommen verlassen.
    Sie konnte mühelos zur Rezeption hinuntergehen und Andys Schlüssel vom Haken nehmen, wo Omar alle Schlüssel verwahrt hatte, bevor sie das Schiff verließen. Sie steckte ihn in ihre Tasche und machte sich zum zweiten Mal auf den Weg zu Andys Kabine.
    Als sie die Tür erreichte, hielt sie plötzlich inne. Was, wenn sie sich täuschte? Was, wenn er aus irgendeinem Grunde seinen Entschluss geändert

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