Das Lied der alten Steine
Beinen erhob sich Serena.
»Ich glaube, er hat versucht, von dir Besitz zu ergreifen«, platzte Anna plötzlich heraus. »Ich glaube, dass er für einen kurzen Moment in dir war. Dein Gesicht veränderte sich. Es sah dir überhaupt nicht mehr ähnlich. O Serena, es war gefährlich, was wir getan haben! Ich glaube, beinahe wäre etwas Schreckliches geschehen. Stell dir vor, er hätte es geschafft!
Stell dir vor, er hätte Besitz von dir ergriffen!«
Es folgte ein langes Schweigen, während Serena tief in Gedanken versunken dastand, dann endlich hob sie die Schultern. »Ich glaube, dass mein Schutz möglicherweise nicht stark genug war.« Sie seufzte, dann lachte sie unbehaglich.
»Vermutlich weiß er sehr viel mehr von diesen Dingen als ich!«
Sie bückte sich, hob das Sistrum vom Boden auf und legte es sacht auf den improvisierten Altar. Dann reckte sie ihre Arme in die Höhe.
»Anna, ich glaube, ich gehe jetzt für ein Weilchen an Deck.
Stört es dich, wenn ich alleine gehe? Ich muss meinen Kopf frei bekommen.«
Nachdem sie gegangen war, ließ Anna ihren Blick durch die Kabine schweifen. Dann räumte sie langsam auf. Serena hatte alles unverändert verlassen, der Altar stand noch an seinem Ort, mit den Kerzen, der Statuette und dem Henkelkreuz. Vorsichtig legte Anna alles nacheinander in die Reisetasche und wickelte das Sistrum wieder in das Seidentuch. Dann faltete sie die Wolldecke zusammen und schob den Nachttisch an seinen alten Ort zurück. Der Anschein von Ordnung hob ihr Befinden etwas, aber immer noch fühlte sie sich unwohl in der Kabine –
schreckhaft sah sie bei dem leisesten Geräusch über die Schulter. Und Geräusche kamen von überall her. Geräusche vom Deck des Nachbarschiffs; Geräusche aus der Stadt; Musik vom Kai irgendwoher, Gespräche und plötzliches Gelächter vom Gang. Wo aber war dann die Stille hergekommen? Diese außerordentliche Stille, die dem Erlöschen der Kerzen vorausgegangen war? Die tiefe Stille, die Louisa im Tempel der Isis wahrgenommen hatte? Sie schauderte und ging zur Tür.
Ben saß in Gedanken versunken an der Bar und trank einen Fruchtsaft, als sie in die Lounge kam. Draußen sah sie mehrere Leute unter Sonnenschirmen an den Tischen sitzen; sie lasen, schrieben Postkarten oder redeten leise miteinander und beobachteten diejenigen, die wieder aufs Wasser gegangen waren, um zu segeln.
»Bereit für den frühen Aufbruch?« Ben lächelte sie an. »Vier Uhr früh ist eine ziemliche Herausforderung für die meisten von uns, denke ich!«
Anna nickte. Sie hatte die Fahrt nach Abu Simbel ganz vergessen.
»Ich habe den Eindruck, dass zwischen Andy und Ihrem Freund Toby einiges im Argen liegt.« Ben hob eine Augenbraue. »Gehe ich recht in der Annahme, dass da Eifersucht im Spiel ist?«
Anna runzelte die Stirn. »Ich kann Ihnen nicht recht folgen.«
»Ach, kommen Sie. Beide haben doch ein Auge auf Sie geworfen, und wie!!« Ben grinste. »Was für eine Macht ihr Frauen doch habt!«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich glaube, von meinem Tagebuch ging eine größere Verführung aus als von mir.« Sie seufzte.
»Haben Sie gewusst, dass es weg ist? Jemand hat es aus meiner Kabine entwendet. Andy und Toby haben sich gegenseitig beschuldigt.«
Ben sah entsetzt aus. »Das ist schlimm. Haben Sie es Omar gesagt?«
»Ich will keine unnötige Aufregung verursachen. Solange ich es zurückbekomme. Das ist das Wichtigste.«
»Ich werde ein bisschen Detektiv spielen.« Ben zwinkerte.
»Wenn Andy es hat, dann wird er es mir irgendwann sagen.«
Sie lächelte. »Danke. Es ist wertvoll, aber es hat für mich eine noch viel größere Bedeutung. Viel größer.« Zum Beispiel wollte sie endlich wissen, wie es mit Louisa und Hassan weiterging.
Serena lehnte auf dem obersten Deck an der Reling und starrte nach unten auf den Fluss, als Anna sich schließlich zu ihr gesellte. Sie stand in einem gewissen Abstand und zögerte, aber Serena warf ihr einen Blick zu und lächelte. »Ich bin wieder okay. Es tut mir alles sehr Leid.«
»Bist du sicher? Dass es dir besser geht, meine ich.«
Serena nickte. »Was es auch war, es ist vorbei. Mir geht es gut.« Sie sah zu Anna hinüber. »Ich habe mich entschlossen, morgen mit nach Abu Simbel zu fahren. Ich will dies nicht abbrechen, aber ich muss mal ein bisschen vom Schiff. Ein bisschen Raum um mich schaffen; Distanz zu alldem gewinnen.
Kommst du auch mit? Das solltest du.«
Anna zuckte die Achseln. »Ich glaube schon. Es ist der Höhepunkt der
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