Das Lied der alten Steine
Sprachen der Erde klangen an ihre Ohren, während sie sich langsam vorwärts bewegten.
Toby konzentrierte sich und versuchte, aus der Mischung von Worten, Gelächter und Rufen etwas zu verstehen.
»Ich denke, wir würden etwas darüber hören, wenn irgendjemand von einer Schlange angegriffen wurde. Kobras sind hier oben wahrscheinlich ziemlich selten, es wäre genau die Art von Nachricht, die sich sofort herumspricht.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Kopf hoch. Wir kommen rechtzeitig, da bin ich ganz sicher.«
Sie war so müde, dass sie kaum die Augen offen halten konnte, als sie die Eintrittskarten kauften und hineingingen. Sie folgten dem Pfad an einem niedrigen Hügel entlang und sahen sich plötzlich einer der berühmtesten Ansichten der Welt gegenüber, den vier Kolossalstatuen von Ramses II., die in eine Felswand gesetzt waren und über das strahlend blaue Wasser des Nassersees hinwegblickten.
Vor dem Tempel herrschte ein solches Gewimmel, dass die Menschenmenge die Ansicht trotz der Höhe der Statuen stark einzuschränken drohte. Anna verschlug es angesichts solcher Massen den Atem. »Wir werden sie nie finden!«
»Natürlich finden wir sie!« Toby sah sich um.
»Hoffentlich kapiert Andy, wie viel Mühe du dir gibst, seine Haut zu retten. Verdient hat er es eigentlich nicht.«
Sie bahnten sich ihren Weg durch die Touristengruppen. Alle Gruppen schienen ihre eigenen Führer zu haben, die marktschreierisch eine kurze Geschichte des großen Sonnentempels und des kleineren Nachbarn zum Besten gaben, den Ramses für seine Lieblingsfrau, Nefertari, hatte errichten lassen. Erst nach dieser Einführung bewegten sie sich zum Tempel selbst. »Vielleicht hat Carstairs, dieser Schurke, den Fluch ja auch längst widerrufen.«
Anna schüttelte den Kopf. »Du hast vergessen, dass Charley die Schlange gesehen hat.« Sie drängte sich zur Tempelfassade durch und blickte fieberhaft nach links und rechts.
Toby beeilte sich, um sie einzuholen. »Wir dürfen uns nicht verlieren! Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass es hier so voll ist. Als Omar uns sagte, niemand sei gezwungen, hierher zu fahren, dachte ich, nur ein paar Leute, eine ausgesuchte Minderheit wäre wagemutig genug.«
»Die anderen sind vielleicht drinnen.« Sie sah zum Eingang.
»Das ist am wahrscheinlichsten.«
Während sie weiterhin bei jedem Schritt die Gesichter um sie her musterten, gingen sie durch den Eingang in die Dunkelheit, in das, was der Reiseführer den Pronaos nannte, eine riesige Felsenhalle mit zwei Reihen von vier hoch aufragenden Säulen.
Sie standen eng beieinander, starrten ins Dunkel und spürten die Unmengen von Menschen, die sich um die Säulen drängten. Nur direkt am Eingang konnte man einen Eindruck des Ganzen erhalten. Die Wände waren überall mit Reliefs von Ramses’
Siegen bedeckt. Weiter drinnen war es fast finster.
»Wir werden sie nie finden!« Anna war zu müde und zu sehr in Sorge, um die imposanten Szenen aufzunehmen, überdies war sie den Tränen nahe.
Plötzlich berührte sie jemand an der Schulter. »Anna?«
Es war Serena. Sie schloss Anna in die Arme. »Was um alles in der Welt machst du hier? Hast du deine Meinung geändert?
Wie bist du hergekommen?«
Anna erwiderte erleichtert die Umarmung. »Das ist eine lange, lange Geschichte. Wo ist Andy?« Sie sah sich verzweifelt um.
Serena zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Er ist zurzeit die letzte Person, nach der ich Ausschau halte!«
»Geht es ihm gut?«
»Soweit ich weiß. Ich habe ihn beim Frühstück im Hotel gesehen. Er schien okay zu sein. Warum?«
»Und er ist hier?«
»Ja, irgendwo. Wir müssten alle hier sein. Gestern sind wir auf dem Nassersee gesegelt, abends haben wir die angestrahlten Tempel gesehen und dazu einen Vortrag von Omar gehört. Der war erstaunlich gut, mit einem Film, wie sie die Tempel von der Stelle bewegt haben, als das Tal geflutet wurde, wie sie sie auseinander genommen und einen künstlichen Berg gebaut haben, um sie hineinzustellen, und das alles. Heute besichtigen wir die beiden Tempel von innen, anschließend kehren wir zurück zum Schiff.« Sie hielt eine Sekunde inne. »Weshalb die Aufregung um Andy?«
»Er hat das Tagebuch im Safe des Weißen Reihers gelassen, aber die kleine Flasche hat er mitgenommen. Und wahrscheinlich auch die Kobra. Sie wird ihn töten.«
»Warum sollte sie ihn töten?« Serena wich zur Seite aus, als eine energische Italienerin ihr mit dem Ellbogen in die Rippen stieß und
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