Das Lied der alten Steine
stand einen Moment nur da, sah sich um und lauschte. Als ob ihre Sinne durch all das, was geschehen war, neu sensibilisiert worden wären, gab sie auf ihre Intuition in einer Weise Acht, wie sie das nie zuvor getan hatte, Und diese sagte ihr, dass dort nichts war; nichts, vor dem man sich zumindest jetzt noch fürchten müsste. Sie nahm Charleys Übernachtungstasche, schaltete das Licht aus und schloss die Tür hinter sich. Insgeheim stieß sie ein inständiges Gebet aus, der Priester von Sekhmet möge bleiben, wo immer er war, und ihnen nicht folgen.
Ein schwarzes Auto wartete am Ufer auf sie. Der junge Mann am Steuer trug westliche Kleidung und grüßte Toby mit einer gewissen Ehrerbietung, als sie einstiegen. In Sekundenschnelle hatte er das Steuer herumgerissen und fuhr vom Kai weg und südlich die Straße am Felshang entlang.
Er hielt vor dem Old Cataract Hotel.
»Warte hier«, sagte Toby zu Anna. Er nahm Charley am Arm und half ihr aus dem Taxi. »Es dauert fünf Minuten.«
Kurz darauf waren sie im Hoteleingang verschwunden. Anna war zu müde, um zu denken. Wenn Toby es organisieren konnte, dass man sich um Charley kümmerte, und das zu dieser Stunde, umso besser. Sie selbst würde sich jetzt keine Gedanken darüber machen.
Als er eine Viertelstunde später zurückkehrte, war sie eingenickt. Das Öffnen der Autotür weckte sie. Er stieg ein und gab dem Fahrer kurze Anweisungen. Er schien mit sich zufrieden zu sein, als sie losfuhren. »Sie ist gut aufgehoben. Sie passen auf sie auf, außerdem habe ich ein paar Anrufe gemacht.
Jemand sieht am Morgen nach ihr, ob es ihr gut geht. Sie kann entweder dort bleiben, bis wir mit dem Dampfer zurück nach Luxor fahren, oder sie besorgen ihr ein Ticket, damit sie früher nach Hause fliegen kann. Und für uns habe ich auch alles geregelt. Südlich von Assuan ist militärisches Sperrgebiet. Ich dachte einfach, dass ich mich erkundige für den Fall, dass wir Passierscheine und so weiter brauchen, um in die Wüste zu fahren.« Er lehnte sich neben ihr zurück.
»Und brauchen wir welche?«
»Alles organisiert. Kein Problem.«
Sie warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu. »Bist du sicher?«
»Absolut. Jetzt schlaf noch ein bisschen. Ich wecke dich, wenn wir da sind.«
»Toby?« Fröstelnd zog sie ihren Pulli enger um die Schultern, Im Auto war es während der Wartezeit sehr kalt geworden.
»Was ist, wenn der Priester von Sekhmet sie erwischt hat? Was, wenn er zurückkehrt, sowie sie alleine ist?«
»Die Hotelcrew hat ein Auge auf sie. Wenn irgendetwas passiert, rufen sie den Arzt.«
»Und was kann ein Arzt tun?«
Er zuckte die Achseln. »Wir sind bald wieder in Assuan, Anna. Wahrscheinlich schon heute Abend. Und wir können von Abu Simbel aus anrufen. Es ist nicht am Ende der Welt. Sowie wir Andy gefunden und ihm die Flasche abgenommen haben, haben wir das Schlimmste hinter uns.« Nach kurzem Schweigen sagte Toby: »Solange du nicht von mir verlangst, dass ich die Flasche berühre!«
Anna lächelte grimmig. »Nein, das erwarte ich nicht.« Sie schnappte nach Luft, als das Auto in ein große Schlagloch fuhr und sie gegen Toby warf. »Ich fände es gar nicht schön, wenn du das Opfer einer Schlange würdest.«
Er legte seinen Arm um sie und zog sie eng an sich. »Ich auch nicht, das kannst du mir glauben.«
Lange sagte keiner von beiden mehr etwas, während sie durch die holprigen Straßen und zahlreichen Kurven zum südlichen Stadtrand fuhren. Die Hauptstraßen waren hell erleuchtet, die Seitenstraßen dunkel, die Fensterläden gegen die kalte Nachtluft geschlossen.
»Toby?« Anna war jetzt hellwach.
»Was ist?«, fragte er und nahm ihre Hand.
»Glaubst du, dass wir zu spät kommen?«
»Wir kommen nicht zu spät.« Er drückte ihre Finger. »Wenn überhaupt irgendetwas geschehen sollte, dann werden wir rechtzeitig vor Ort sein. Da bin ich mir sicher.«
12
Lobpreisungen dir, o du Gott,
der du den Augenblick nach vorne trägst,
du Bewohner aller Geheimnisse,
du Wächter des Wortes, welches spricht…
Das Haus wurde leer zurückgelassen. Jeder kannte den Fluch, der darauf lag: Alle, die hier wohnten, starben. Aber die Zeit vergeht. Selbst Dörfer verschwinden. In der Wüstenluft liegen
die Lehmziegel verstreut. Die wenigen Habseligkeiten, die zurückgelassen wurden, sind wie herrenloses Treibgut unter dem Sand.
Die Priester werden schwache, wesenlose Gespenster ohne das Lebensblut menschlicher Energie. Sie neiden der Sonne und dem Mond ihre
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