Das Lied der alten Steine
Existenz und dem Wüstenwind seine Kraft. Sie lauern, angetrieben nur von ihrem gegenseitigen Hass.
Wieder kreuzen Männer und Jungen diesen Weg, immer auf der Hut, immer in Erwartung, dass der Schutt von Tausenden von Jahren Reichtümer und Ruhm für die wenigen Glücklichen birgt. Ein Mann bückt sich, hebt hier eine Scherbe auf, dort ein Tongefäß. Er sieht das Glitzern von Glas, schiebt mit d em Fuß den Sand beiseite, um die winzige Flasche bloßzulegen. Sie ist
hübsch. Sie ist interessant. Wer weiß, vielleicht ist sie alt. Er hebt sie auf, wischt sie an seiner Djelaba ab und steckt sie ein.
Nur einmal hält er bei alledem inne, sieht sich um und fröstelt.
Die Götter wachen über dich, Mann der Wüste, damit deine Stunde nicht bald schon anbricht…
Sie erwachten einige Zeit später, als das Taxi mitten auf der Straße anhielt. Der Fahrer drehte sich um, lehnte sich über den Sitz und klopfte auf Tobys Knie.
»Wollen Sie die Geburt von Sonnenkönig Ra sehen?«
Toby blickte mit grimmigem Lächeln aus dem Fenster. Jeder Tourist seit Anbeginn der Zeit hatte offensichtlich diesen Halt verlangt. Wahrscheinlich war er obligatorisch. »Morgendämmerung. Komm, Anna. Fünf Minuten machen jetzt keinen so großen Unterschied und es lohnt sich wirklich. Sonnenaufgang über der Wüste.«
Sie öffneten die Türen und stiegen aus. Die Luft war frisch und beißend kalt, als sie auf der Mitte der verlassenen Straße standen und in die Runde blickten. Der Teer der Straße erstreckte sich in der düsteren Dämmerung wie ein gerades Band durch die Wüste, hier und da von Sandwehen und Geröll aus kleinen und größeren Steinen bedeckt. Das Licht war kalt und farblos. Es war sehr still. Das einzige Geräusch war das Knacken des abkühlenden Motors. Der Fahrer machte sich nicht die Mühe, auszusteigen. Er saß hinter dem Steuerrad und binnen Sekunden fielen ihm die Augen zu.
Das heraufdämmernde Licht im Osten war sehr hell und wurde jede Sekunde stärker. Die Sterne über ihnen, vor einer Weile noch zum Greifen nah, waren nun verschwunden. Zwei oder drei kleine flache Wolken, die bewegungslos über ihnen standen, spiegelten einen Augenblick lang einen roten Schimmer, dann schwand die Farbe wieder und schließlich die Wolken selbst.
Anna nahm Tobys Hand. Sie bekam eine Gänsehaut. »Es ist, als ob die ganze Welt den Atem anhielte.«
Er nickte. »Schau. Jeden Moment ist es so weit.«
Sie standen schweigend, ihre Augen auf die wachsende Helligkeit gerichtet, während um sie herum immer mehr von der Wüste sichtbar wurde und das Licht an Kraft gewann. Es lag etwas Unerbittliches, ja fast Bedrohliches in dem Geschehen.
Dann plötzlich stieg der Rand der Sonne über den Horizont und blendete sie.
Anna hielt den Atem an, zu Tränen bewegt von der unaussprechlichen Schönheit des Augenblicks. Nach wenigen Sekunden, während die Sonne höher stieg, konnte sie nicht mehr hinsehen, stattdessen wandte sie sich um und sah, wie das Licht sich bis an den äußersten Horizont über die Wüste ergoss.
»Okay. Das war’s. Komm.« Toby ergriff ihre Hand. »Wir müssen weiter. Es wird bald heiß und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Als sie Abu Simbel erreichten, war Anna noch einmal eingeschlafen. Sie wachte erst auf, als sie klappernd in die Parkzone einbogen und der Fahrer den Motor abstellte.
»Gute Geschwindigkeit, ja?« Er lehnte sich wieder über den Sitz und strahlte sie an.
Toby nickte. Er griff nach seiner Geldbörse. »Gute Geschwindigkeit, gutes Geld.« Er zog einen Packen schmutziger Geldscheine heraus und zählte sie in die Hand des Mannes.
Anna stieg schon aus und die Hitze traf sie wie ein Hammerschlag, als sie sich unter den Autos und Bussen umsah.
»Wie sollen wir die anderen finden?«
Toby winkte dem Fahrer und sah zu, wie das Taxi zurückstieß und abfuhr.
»Fährt er weg?« Anna starrte ihm nach.
»Nicht wenn er weiß, was gut für ihn ist. Ich habe ihm nur den Fahrpreis für die Hinfahrt gegeben. Wenn er den Rest will, muss er auf uns warten.« Toby lächelte. »Nein, er sucht nur einen Parkplatz. Dann wird er ein Nickerchen machen, bis wir zur Abfahrt bereit sind. Nun, ich vermute, dass die anderen bereits bei einem der Tempel oder am Strand sind. Wir versuchen es zuerst beim großen Tempel. Es gibt da so viel zu sehen.«
Nachdem sie sich an der schon recht langen Schlange vor dem Eingang angestellt hatten, musterte Toby die Menge ringsum nach bekannten Gesichtern. Wortfetzen aus allen
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