Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
von uns aufgefallen war – kein Wunder, so oft wie ich mich gestern an ihn geklammert hatte. Dafür war ich jetzt ziemlich verlegen, als ich meine Hand zurückzog und zur Tür stapfte. Während Aiko und Pheme noch bei Macius blieben, folgte mir Thomas nach unten.
Vor meinem Zimmer drehte ich mich um.
Thomas war direkt hinter mir. »Wie geht es dir?«, fragte er.
»Es geht schon. Das tote Mädchen … das war einfach zu viel. Macius hätte es uns nicht zeigen sollen. Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist.«
»Er wollte uns verdeutlichen, wie ernst die Lage ist«, gab Thomas zurück. »Und das ist ihm gelungen. Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht ruhig schlafen kann, da ich jetzt weiß, dass es dort draußen solche Wesen gibt.«
Ich seufzte. Wieder einmal ärgerte ich mich über Macius. Hätte es denn keine andere Möglichkeit gegeben, uns den Ernst der Lage zu verdeutlichen? Außerdem hätte er Thomas in diese Geschichte gar nicht hineinziehen müssen. Wie der Wassermann selbst gesagt hatte, war Thomas als Mensch für die Harpyien nicht interessant. Auch wenn mir bei dem Gedanken, allein hier zu sein, das Herz in die Hose rutschte.
»Vielleicht hättest du dich besser nicht um mich kümmern sollen«, sagte ich ein wenig kleinlaut und blickte auf die Spitzen meiner Turnschuhe. Sie sahen noch immer aus, als sei ich durch Matsch gerannt. Neue Schuhe gehörten leider nicht zur Ausstattung des Zimmers.
»Quatsch!«, platzte er heraus. »Zwar ist es blöd, dass ich meinen Job los sein werde, wenn das hier alles vorbei ist, aber ich bin froh, dass ich hier bin. Ich würde gar nicht wieder zurückwollen.«
Die letzten Worte sprach er ganz leise und ohne mich anzusehen.
Wie süß! Musste das denn unbedingt sein?
Bevor ich noch etwas ganz Dummes tat – wie zum Beispiel mich ihm an den Hals zu werfen und meine unsterbliche Liebe zu gestehen –, gab ich ihm schnell einen Kuss auf die Wange und verschwand in meinem Zimmer.
Seit wann waren Freundschaften eigentlich so kompliziert?
Am Nachmittag brachte mir Macius ein paar alte Bücher und gab mir den Auftrag, sie gründlich durchzulesen, ehe er gleich wieder verschwand. Die alten, ledergebundenen, nach fauligem Holz riechenden Folianten waren dermaßen dick, dass ich sicher Wochen oder Monate brauchen würde, um sie zu studieren. Titel, die einen Hinweis darauf gaben, was sich zwischen den Buchdeckeln befand, suchte ich vergebens. Außerdem waren die Texte in einer altertümlichen Schrift verfasst, die ich kaum entziffern konnte.
Es gab aber nicht nur Text, sondern auch zahlreiche Abbildungen in den Büchern. Bei einigen konnte ich recht gut erkennen, was sie darstellen sollten, andere waren eher verwirrend. Zunächst dachte ich, dass es eine Enzyklopädie der Monster sei, aber dann wurde mir klar, dass es sich um gebundene Akten und Aufzeichnungen handelte. Wahrscheinlich betrafen sie die Götterkinder.
Macius wollte mich doch hoffentlich nicht abfragen! Dazu müsste er mir erst einmal die Schrift beibringen, in der die Texte verfasst worden waren. Zwischen den krummen Haken und seltsamen Strichen konnte ich nur ab und zu ein Wort erkennen, doch daraus wurde ich noch lange nicht schlau.
Entnervt schob ich das erste Buch beiseite und erhob mich. Gab es vielleicht so was wie ein Wörterbuch alter Schriften? Oder musste es dann Zeichenbuch heißen?
Mit dem Vorsatz, Macius zu suchen und ihm zu sagen, dass es unmöglich war, diese Bücher zu lesen, verließ ich mein Quartier und stapfte die Treppe hinauf.
Ich suchte ihn in der Küche und im Gemeinschaftsraum, doch dort war niemand. Ich schritt also höher, bis zu den Räumen, in die uns Macius noch nicht geführt hatte. Die erste Tür oberhalb des Aufenthaltsraumes war verschlossen, das Rad, mit dem man es öffnen konnte, quietschte laut und traf auf einen Widerstand, so dass ich es nicht weiterdrehen konnte.
Ich stieg eine Treppe höher und sah Licht. Hier war die Tür nur angelehnt. Stimmen vernahm ich nicht, aber ich spürte, dass jemand in dem Raum war.
Vorsichtig zog ich die Tür auf und erwartete, dass sie quietschte, aber die Angeln waren gut geölt.
Die Lampen, die den Gang erhellten, waren ein wenig angeschmutzt, und eine flackerte ein wenig. Seltsam, die anderen Räume waren schließlich gut in Schuss. An der Decke wehten ein paar Spinnweben, der Boden wirkte ebenfalls dreckig. Den Gang säumten einige schäbige Kisten und Truhen, die mit rostigen Schlössern gesichert waren. Was da wohl
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