Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
beschützen«, sagte er schließlich so sanft, dass mich ein wohliger Schauer überlief.
Rasch drängte ich das Gefühl beiseite. Mehr denn je war es wichtig, einen klaren Kopf zu behalten und meine Hormone in ihre Schranken zu weisen. Und wenn ich den Kopf dafür in die Kühltruhe stecken musste! Thomas war alles, was mir aus meinem früheren Leben geblieben war. Das Einzige, was mir noch das Gefühl gab, ich selbst zu sein. Ich würde unsere Freundschaft ganz bestimmt nicht wegen einer blöden Schwärmerei in Gefahr bringen. Früher nicht und jetzt erst recht nicht.
»Danke. Aber vielleicht ist es genau andersherum, und ich beschütze dich. Schließlich habe ich angeblich Superkräfte«, gab ich zurück.
Thomas grinste nur. Ich konnte ihm ansehen, dass er ganz bestimmt nicht vorhatte, sich hinter mich zu stellen, wenn es wirklich brenzlig wurde.
»Okay, dann gehe ich mal wieder«, sagte ich, während ich meine Hände in den Taschen der Jogginghose vergrub, um mein Unbehagen zu verbergen. »Du solltest dich beeilen, wenn du in die Dusche willst, Pheme und Aiko wollten auch.«
Thomas nickte. »Danke für den Tipp. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«
Als ich mich umwandte, begleitete mich sein Blick noch bis zu meinem Quartier, und es fiel mir schwer, mich nicht ständig nach ihm umzusehen.
In der Nacht wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Meine Glieder waren bleischwer, trotzdem konnte ich nicht schlafen und hatte immer wieder die Bilder des Wohnheimüberfalls vor Augen. Ich hatte meine Träume stets für seltsam gehalten, aber nun wäre es mir lieber gewesen, als heulende Banshee vor irgendeinem Fenster zu stehen, statt von meinen Erinnerungen gequält zu werden. Träume vergingen, wenn der Morgen kam.
War es etwa bereits Morgen? Da es hier unten kein Tageslicht gab, war mein innerer Rhythmus ziemlich durcheinander.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es kurz nach vier war.
Seltsamerweise kam mir plötzlich mein Vater in den Sinn. Würde er mitbekommen, dass seine Tochter verschwunden war? Würde es ihn überhaupt kümmern?
Mir fiel wieder ein, dass ich ihn nicht angerufen hatte. Machte er sich Sorgen wegen mir? Oder ertränkte er alles in Alkohol?
Zu allem Überfluss überkam mich jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen, dabei war ich meinem Vater echt nichts schuldig. Wahrscheinlich erinnerte er sich nicht mal mehr daran, dass ich ihn anrufen sollte. So war es immer gewesen.
Trotzdem spürte ich ein Ziehen in der Brust, das ich mir nicht genau erklären konnte. War es Enttäuschung? Selbstmitleid? Oder der Wunsch nach einem Vater, der sich um mich gekümmert hätte?
Ob ich heute überhaupt hier wäre, wenn mein Vater zu mir gehalten und mich nicht sooft vernachlässigt hätte? Eine Banshee wäre ich trotz allem, aber vielleicht hatte meine Mutter ihm ja erzählt, wer sie war. Er hätte mich vorbereiten können. Dann hätte ich womöglich auch Macius früher getroffen, und die Leute aus dem Wohnheim könnten noch am Leben sein. Die Harpyien wären nämlich sicher bei uns zu Hause aufgekreuzt, und ich hätte sie mit meinem Schrei pulverisieren können. Oder so ähnlich.
Doch was nützte das jetzt noch …
Ich zog mir die Decke über den Kopf und wartete darauf, wieder einzuschlafen. Zwischendurch versuchte ich an Thomas zu denken, was mich erfolgreich von meinen trüben Überlegungen ablenkte, doch irgendwann verdrängte das Bild eines Strandes an einem stürmischen Sommertag alles andere. Ich meinte, das Rauschen des Wassers zu hören und Seetang zu riechen …
»He, aufstehen, du Schlafmütze!«
Der Ruf und ein kräftiges Hämmern an meine Tür rissen mich aus dem Schlaf. Verdammt, wir mussten doch wohl nicht allen Ernstes so früh aufstehen. Ich fühlte mich, als seien erst wenige Minuten vergangen, doch als ich auf meine Uhr sah, standen die Zeiger auf zehn vor zehn.
»Aileen, alles in Ordnung mit dir?«, hakte Thomas nach, als eine Reaktion von mir ausblieb.
»Ja, ich komme gleich«, grummelte ich und wälzte mich aus dem Bett. Zum Duschen blieb keine Zeit mehr, also schlüpfte ich in neue Baumwollwäsche und zog den Jogginganzug über.
Draußen lehnte Thomas an der Wand. Als ich auf den Gang trat, lächelte er mich breit an. Seine Zurückhaltung von gestern schien verschwunden zu sein.
»Hier, ich hab was für dich!«, sagte er und reichte mir ein in buntes Papier abgepacktes Gebilde. »Das ist so was wie ein Kuchen. Habe ich im Küchenschrank gefunden. Das Zeug schmeckt voll
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