Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
unsere Hände betrachtet hatte.
Macius räusperte sich, und ich zuckte zusammen. Dann funkelte ich den Wassermann böse an, der das Bild der Toten inzwischen durch ein neues ersetzt hatte.
Ich konnte nicht sagen, dass es ein schönerer Anblick war, der sich uns bot, aber immerhin handelte es sich nicht um eine Leiche. Das Wesen mit der blassgrünen Haut, den dunklen Augenhöhlen und den spitzen Zähnen schien recht lebendig zu sein. Unnormal, aber nicht tot.
»Es war keineswegs das Werk der Harpyien, wenngleich man davon ausgehen darf, dass sie die Nixe umgebracht haben«, erklärte der Wassermann. »Getötet und abgenagt hat sie ein Ghul , wie ihr ihn hier seht. Bis vor kurzem existierte noch eine Art Nichtangriffspakt unter den Götterkindern, doch der wurde gebrochen. Inzwischen gab es insgesamt fünfzig Tote unter den Gaia nischen, Aitherischen und Pontoniern.«
»Fällt das den Behörden denn nicht auf?«, wunderte ich mich und war froh, dass Macius uns nicht noch die anderen Leichen zeigte. »Das Massaker in meinem Wohnheim ist schließlich auch durch die Medien gegangen.«
»Das war ein Extremfall. Außerdem wurden dabei Menschen getötet. Für gewöhnlich lassen die Nyxianer ihre Opfer verschwinden, so wie ich es getan habe. Das Einzige, was von ihnen bleibt, ist eine Spur in diesem Kristall. Man sieht darin ihre Geburt und ihren Tod, alles dazwischen sind nichts weiter als diffuse Linien, die sich schwer interpretieren lassen.«
Könnte ich in dem Kristall also auch meine Geburt sehen? Vielleicht sogar meine Mutter, wie sie im Kreißsaal lag? Immerhin war mein Geburtstag ihr Todestag.
Nein, das wollte ich nicht sehen! Nicht jetzt.
Damit ich nicht mehr daran denken musste, fragte ich schnell: »Unternimmt denn niemand etwas dagegen? Weiß man überhaupt, warum sie das tun?«
»Deshalb sind wir hier. Wir werden nach dem Grund der Feindseligkeit suchen.«
»Nur wir?« Ich blickte in die Runde. Pheme und Aiko mochten vielleicht mächtig sein, und dass Macius es war, wusste ich bereits. Wenn ich meine Stimme in den Griff bekam, würde ich vielleicht auch ganz brauchbar sein, und Thomas konnte den Umgang mit einer Waffe lernen. Doch zu fünft gegen das komplette Volk der Nyxianer? Waren wir da nicht ein ganz kleines bisschen in der Unterzahl?
»Natürlich werden wir die Unterstützung anderer suchen. Nachdem ihr beide euch ein paar Grundkenntnisse in Magie und Kampfkunst angeeignet habt, nehmen wir Kontakt zu den Nymphe n in Russland auf. Sie sind extrem mächtig und haben gute Kontakte zu weiteren Götterkindern, man sagt ihnen sogar nach, dass sie die Nyxianer ausspionieren.«
»Wie das denn?«, platzte es aus mir heraus. Ich kam mir allmählich vor wie in einem interaktiven Märchenbuch. Ständig poppten irgendwelche neuen Gestalten oder Dinge auf.
»Nymphen sind sehr gerissen und wandlungsfähig, aber das wirst du während unserer Unterrichtsstunden schon noch mitbekommen.«
»Und was mache ich?«, meldete sich Thomas zu Wort, dem nicht entgangen war, dass Macius offenbar nur mich angesprochen hatte.
»Du wirst ebenfalls trainieren. Mit Pheme. Sie wird dir alles beibringen, was du wissen musst, um ein effektiver Leibwächter zu werden.«
So, wie die Sirene lächelte, würde das für Thomas kein Zuckerschlecken werden. Ein wenig tat er mir leid. Aber wer weiß, was auf mich wartete!
»Mit Hilfe der Nymphen werden wir schon bald eine schlagkräftige Truppe sein und können all den Götterkindern, die noch nicht erwacht sind, klarmachen, welche Kräfte in ihnen schlummern. Wenn alle, die auch nur einen Tropfen Götterblut in den Adern haben, sich gegen die Nyxianer erheben, können wir schon bald wieder Frieden auf der Welt schaffen.«
Ich fragte mich, was wäre, wenn auch all die Nyxianer, die noch nichts von ihren Kräften wussten, erwachen würden. Sicher gab es die auch, wenngleich ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein Ghul oder eine Harpyie irgendwie als Mensch durchgehen würde.
»Das wäre es erst einmal«, schloss Macius nun. »Wir werden uns heute noch ausruhen und morgen mit dem Training und den weiteren Vorbereitungen beginnen. Aiko und Pheme, ihr wisst, was ihr zu tun habt.«
Die beiden nickten, sagten aber nichts weiter. Ich rollte die Augen. Solange die drei mit ihrer Geheimniskrämerei glücklich waren.
Mit einer Handbewegung brachte Macius den Kristall zum Verlöschen, dann erhoben wir uns. Thomas und ich hatten die ganze Zeit über Händchen gehalten, ohne dass es einem
Weitere Kostenlose Bücher