Das Lied der Cheyenne
Kraft verloren. Das Bündel mit den heiligen Pfeilen lag im Bach, und sie war dem Händler hilflos ausgeliefert. Er war dick und schwach, aber er hatte alle Vorteile auf seiner Seite und würde sich nicht noch einmal überrumpeln lassen. Das nächste Mal würde sie ihre Unschuld verlieren.
Ihr wurde übel bei diesem Gedanken. Wie alle Frauen ihres Volkes war sie darauf bedacht, möglichst lange ihre Unschuld zu behalten, und es war schlimm, ausgerechnet von einem stinkenden Ve-ho entjungfert zu werden. Sie würde lange zu den Göttern beten und viele Tage in einer Schwitzhütte verbringen müssen, um diesen Makel loszuwerden. Wenn sie überlebte. Ohne die heiligen Pfeile war sie hilflos, und auch der Adler war vom Himmel verschwunden. »Wo bist du?«, rief sie. »Mein Schutzgeist, warum hast du mich verlassen?«
Der weiße Büffel erschien am Abend, als sie vollkommen entkräftet neben dem Wagen zusammenbrach und das Bewusstsein verlor. Sie sah nicht mehr, wie Tinker vom Kutschbock sprang, die Pferde vom Wagen spannte und zum Grasen auf die Lichtung trieb, die er als Lagerplatz ausgesucht hatte. Sie spürte auch nicht seinen geringschätzigen Blick, als er auf sie herabblickte und gleichgültig mit den Schultern zuckte. »Und ich dachte immer, Indianerfrauen wären zäh«, sagte er.
Sie versank in ihrer Traumwelt und begegnete dem weißen Büffel auf einer grünen Bergwiese. Er stand schnaubend im kniehohen Gras. Seine Flanken dampften, und aus seinen Augenwinkeln rannen dünne Blutfäden. »Aiee, dies ist ein schlechter Tag«, wiederholt er ihre Worte.
Sie lag benommen auf dem Boden und erkannte ihn nur undeutlich. »Warum hast du mich verlassen?«, klagte sie. »Warum hat Maheo mich verlassen?«
»Die Geister sind bei dir«, antwortete der Schutzgeist, »aber sie haben Angst.« Er seufzte. »Angst vor dem weißen Mann.«
»Die Geister haben Angst?«, erschrak sie.
»Ich weiß«, gab der Büffel zu, »es klingt unglaublich, und doch ist es so. Die Geister haben Angst vor den Ve-hos, weil sie mächtig sind. Sie breiten ihre Netze wie Spinnen aus und dringen immer weiter nach Westen vor. Wir können sie nicht aufhalten, meine Schwester. Sie sind stärker als wir.«
»Stärker als die Geister?« Sie verstand ihren Schutzgeist nicht. Es geschah zum ersten Mal, dass die Geister des Volkes einen Feind fürchteten, und sie fand keine Erklärung dafür. Sie schufen die Sonne und den Regen, und sie hauchten allen Wesen das Leben ein. Wie konnten sie ein fremdes Volk fürchten, das eine blasse Hautfarbe hatte und so erbärmlich stank wie der Händler? Das sich mit einem braunen Wasser betrank und lärmend durch die Dunkelheit zog? Hatten die Geister ihre Macht verloren? Waren sie genauso hilflos wie ihre Tochter, die das heilige Bündel verloren hatte?
»Wenn ich sterbe, stirbt mein Volk!«, sagte sie. »Ich muss dem weißen Mann entkommen und die heiligen Pfeile ins Dorf zurückbringen. Gib mir Kraft, mein Schutzgeist!«
»Auch du bist den Ve-hos unterlegen«, erwiderte der Büffel, »sie sind so zahlreich wie die Sterne am Himmel, und sie werden dein Volk wie ein Bienenschwarm ersticken. Nur ein weißer Mann kann dich retten. Suche diesen weißen Mann!«
»Ich habe ihn gefunden!«, rief sie. »Der Mann mit den blauen Augen. Lebt er noch?« Sie hob den Kopf und sah, dass der weiße Büffel verschwunden war. »Wird er mich befreien?«
Sie erwachte schweißgebadet. Es war immer noch dunkel, und sie lag neben dem Wagen im feuchten Gras. Der Händler hatte sie heruntergezogen und ihr nicht mal eine Decke gegeben. Sie spürte ein heftiges Dröhnen in ihrem Kopf und fühlte, wie etwas klebrig über ihre Schläfe lief. Sie musste auf einen Stein geprallt sein. Die Verletzung war nicht schlimm, aber der Schmerz war immer noch da, und ihre Gelenke waren taub von den Fesseln.
Sie wartete, bis das Dröhnen in ihrem Kopf nachließ. Hatte sie ihren Schutzgeist getroffen, oder hatten ihr die bösen Geister nur einen Streich gespielt? Waren die bösen Geister der Ve-hos in ihren Traum gedrungen, um ihr Angst zu machen? Sie konnte nicht glauben, dass sich die Geister des Volkes vor den blassen Männern fürchteten. Sie waren mächtiger als alle Lebewesen. Es gab nichts, was ihre Macht brechen konnte. Wenn die Ve-hos wirklich so zahlreich und stark waren, würden sie Blitz und Donner schicken, und die Erde würde sich auftun und die weißen Eindringlinge für immer verschlingen. Aiee, niemand war stärker als Maheo und die
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