Das Lied der Cheyenne
doch kaum und konnte sich nicht vorstellen, ihn jemals wiederzutreffen. Oder doch? Der Schutzgeist hatte von einem fremden Land gesprochen. Wohin führte ihre Reise?
Sie schüttelte die Gedanken ab. Wenn sie den weißen Mann traf, war immer noch Zeit, darüber nachzudenken. »Shar-ha haben viele meiner Freunde und Verwandten getötet«, erinnerte sie den Büffel an den Überfall. »Blitzfrau ist tot. Wolfsgesicht und Weißer Biber sind im Tal der Tränen gestorben.« Sie sprach die Namen der Toten aus, weil es wichtig war. »Die Shar-ha haben die heiligen Pfeile gestohlen. Warum, mein Bruder? Warum?«
»Ich habe versucht, es dir zu erklären.«
»Ich verstehe es nicht.«
»Die Gedanken der Geister sind unergründlich«, erwiderte der Büffel, »sei stark und erdulde, was sie dir aufbürden. Bete zu ihnen und tue nichts, was sie verärgern könnte.«
»Wie kann ich mein Volk retten?«
»Folge deinen Träumen«, riet ihr der Büffel, »und erinnere dich an die Worte, die ich dir im hohen Norden gesagt habe. Meide das Feuer! Laufe vor den Flammen davon und suche deinen eigenen Stern! Er wird dich in eine neue Zukunft führen.«
»Welches Feuer? Welcher Stern?«
»Das Feuer der vierten Nacht«, antwortete der Büffel vieldeutig. »Folge dem Adler ins Land der Shar-ha und achte auf den Stern mit dem roten Schatten. Wenn du ihn siehst, ist der Morgen der Entscheidung gekommen. Folge ihm in ein fremdes Land und suche nach dem Mann mit den blauen Augen!«
»Das verstehe ich nicht, mein Bruder.«
»Mehr kann ich dir nicht sagen. Vertraue meinen Worten und reite zu den Shar-ha. Wenn du deinen Träumen folgst, wirst du die Pfeile zurückholen. Sei stark, meine Schwester!«
»Die Shar-ha werden mich töten!«
»Nein«, widersprach der weiße Büffel, »sie werden dich wie eine Prinzessin behandeln. Du bist eine heilige Frau. Sie werden dir das beste Essen und die beste Hütte geben.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du sprichst in Rätseln, mein Bruder.«
»Das muss ich.«
Büffelfrau ließ seufzend die Schultern hängen und sah ihrem Schutzgeist in die roten Augen. Sie waren nicht mehr blutig und wirkten nur müde. »Wann soll ich reiten?«, fragte sie.
»Im Mond, wenn das Hochwasser kommt.«
Sie erschrak. »Und wie sollen wir den Winter überstehen? Die Pfeile unserer Krieger treffen nicht, solange das heilige Bündel bei den Shar-ha ist. Wir haben kein Jagdglück. Von was sollen wir leben? Mit was sollen wir die Kleinen füttern? Wenn der Winter hart ist, werden viele Hügelleute sterben.«
»Die Sommerjagd war gut, und ihr habt viele Vorräte«, sagte der Büffel, »ihr werdet keinen Hunger leiden. Sei stark und verzweifle nicht. Du wirst dein Volk retten. Ich glaube an deine Stärke, meine Schwester. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Der Schutzgeist verschwand, und Büffelfrau ritt zu ihrem Volk zurück. Sie aß wenig und betete viel, und ihr Gesicht wurde hager und ließ die Knochen hart hervortreten. Sie brauchte einige Zeit, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte und bereit war, mit den Kriegern ins Hauptlager zu ziehen. Die Verantwortung des ganzen Volkes lastete auf ihr, und sie musste stark sein, wenn sie den Kriegern mitteilte, was der Schutzgeist ihr aufgetragen hatte. Einige Krieger würden daran zweifeln, dass sie stark genug war, allein gegen die Shar-ha zu ziehen.
Als die ersten Eisschichten am Rand des Flusses zu sehen waren, zogen Büffelfrau und die Krieger der Hügelleute ins Hauptlager. Die Ratsversammlung wurde einberufen, und die Häuptlinge versammelten sich am großen Feuer. Fast alle Krieger des Volkes waren erschienen und warteten gespannt darauf, was die heilige Frau der Hügelleute zu sagen hatte. Das Land am Verrückten Fluss erlebte eine Unruhe, wie man sie sonst nur während des Sommertanzes kannte. Eine düstere Stimmung lag über dem Feuer. Der Mond des harten Gesichtes hatte begonnen, und der kalte Mann aus dem Norden hatte kalten Wind ins Land der tsis tsis tas geschickt. Fast alle Krieger hatten Büffelfelle umgelegt, und das Feuer loderte hoch zum Himmel.
Kleiner Wolf ließ die heilige Pfeife des toten Schamanen von einem jungen Krieger anzünden. Er sprach ein langes Gebet und reichte sie den anderen Häuptlingen. »Die Zeiten sind schlecht«, begann er, »und viele unserer Freunde und Verwandten sind auf die andere Seite gegangen.« Er schilderte ihre Verdienste und hob die Stärke des Volkes hervor, das strenge Winter und lange Trockenheiten überstanden
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