Das Lied der Cheyenne
Eine seltsame Kraft ergriff Besitz von ihrem Körper und erfüllte sie mit neuer Energie. Ihre Muskeln strafften sich, ihr Blick wurde klar. »Du bist gekommen, mir etwas zu sagen«, dachte sie. Ihre Gedanken erreichten den Adler, der heiser krächzte. »Dein Schutzgeist hat mich geschickt«, sagte er. Nur sie hörte seine Stimme. »Ich soll dich beschützen und dir den Weg zeigen.«
»Wohin soll ich gehen?«, fragte sie.
»Du wirst es erfahren, wenn du in die heiligen Berge gehst und mit deinem Schutzgeist sprichst«, antwortete der Adler.»Er weiß, was geschehen ist, und wartet auf dich.«
»Warum musste das geschehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Adler, »ich bin nur der Bote. Ich werde meine Flügel über dich ausbreiten und dir folgen, wenn du den Sternen folgst. Die Reise ist lang und beschwerlich.«
»Was für eine Reise?«
»Mehr weiß ich nicht«, erwiderte der Adler. »Reite nach Hause und frage deinen Schutzgeist. Sage den Ratshäuptlingen, was er dir aufgetragen hat. Du bist die erwählte Frau.«
»Warum, mein Bruder?«
Es kam kein Antwort mehr. Der Adler zog stumm seine Kreise und flog mit den Hügelleuten in das Land der heiligen Berge. Er wachte in der Krone eines Baumes, wenn sie lagerten, und er lockte einen Jagdtrupp der Shar-ha auf eine andere Fährte, damit es kein Blutvergießen mehr gab. Er führte die Hügelleute ins heimatliche Dorf zurück und beobachtete krächzend, wie Dachs durch das Lager ritt und die schlimme Kunde von dem gescheiterten Kriegszug und dem Verschwinden der Pfeile verbreitete. Großes Wehklagen setzte ein, und Bärenkopf schickte sofort einen Krieger los, der Kleiner Wolf und den anderen tsis tsis tas berichten sollte. Die Wahl fiel auf Roter Mond, weil er zu den schnellsten Reitern gehörte.
Der junge Krieger ritt sein bestes Pony und führte ein anderes an den Zügeln hinter sich her. Er wechselte die Pferde im vollen Galopp und dachte betrübt daran, wie sehr Kleiner Falke diese Kunststücke geliebt hatte. Er war nicht sein bester Freund gewesen. Sie hatten sich oft gestritten, und jeder hatte geglaubt, dem anderen überlegen gewesen zu sein. Aber er trauerte um ihn, weil er ein tapferer Krieger gewesen war. Die Geister hatten ihn vor einem Mond verlassen, als die Shar-ha das Dorf überfallen hatten. Sie hatten ihm Blitzfrau genommen und seinen Geist vernebelt, bis er von Rache und Trauer erdrückt wurde. Aiee, er war wie ein großer Krieger gestorben.
Als die Sonne zum zweiten Mal am Horizont aufging, erreichte er das Hauptlager des Volkes. Er ritt zum Tipi des Häuptlings und trat ein. Er blieb rechts vom Eingang stehen und sagte: »Mein Häuptling, ich hab dir etwas Wichtiges mitzuteilen.« Die Tradition hätte erfordert, dass er den Häuptling begrüßte und darauf wartete, von ihm ans Feuer gebeten zu werden, und Kleiner Wolf hatte bereits eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, aber er sah, dass Roter Mond eine schlimme Nachricht brachte, und verzichtete darauf. »Berichte, mein Bruder.«
Der Krieger erzählte von den tragischen Ereignissen im Lande der Shar-ha und wartete, bis Kleiner Wolf seine Pfeife entzündet hatte und geduldig rauchte. Dann fügte er hinzu: »Büffelfrau ist in die heiligen Berge geritten und spricht mit ihrem Schutzgeist. Er wird ihr sagen, wie unser Volk gerettet werden kann. Er weiß, wie wir das Bündel mit den Pfeilen zurückbekommen.«
Kleiner Wolf war nicht so zuversichtlich wie der junge Krieger der Hügelleute. Der Häuptling war kein Schamane, aber auch er hatte während des letzten Mondes oft geträumt und schlimme Bilder in der Dunkelheit gesehen. Eine Zeit der schweren Prüfungen kam auf die tsis tsis tas zu. Er hatte gehofft, dass Wolfsgesicht die Geister versöhnen würde und die Macht der heiligen Pfeile stark genug war. Nicht in seinen schlimmsten Träumen hatte er daran gedacht, dass es die bösen Mächte auf diese Pfeile abgesehen hatten. Aiee, das brachte sein Volk an den Rand eines Abgrundes. Büffelfrau war eine heilige Frau mit besonderen Fähigkeiten, aber sie war jung und unerfahren, und er wusste nicht, ob sie stark genug war, den Kampf gegen die bösen Kräfte zu bestehen. Er hoffte es. Es gab keine Schamanen mit vergleichbaren Fähigkeiten, und sie war die einzige Hoffnung des Volkes!
»Wir warten, bis Büffelfrau aus den Bergen zurückkehrt«, sagte Kleiner Wolf, nachdem er lange geraucht und nachgedacht hatte. »Wenn die Ränder der Flüsse zufrieren, treffen wir uns am Ufer des Verrückten
Weitere Kostenlose Bücher