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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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Spitze aus kann man den gesamten Bachlauf überblicken.«
    Ragen sah ihn von der Seite her an. »Weißt du, was ›hundert‹ bedeutet, Arlen?«, fuhr er fort.
    Wieder nickte Arlen. »Zehn Paar Hände.«
    »Nun ja, selbst ein kleiner Berg ist höher als hundert deiner Torfhügel, wenn man sie übereinanderstellte. Und die Berge von Miln sind nicht klein.«
    Arlens Augen weiteten sich, als er versuchte, sich eine solche Höhe vorzustellen. »Dann müssen sie ja den Himmel berühren«, überlegte er.
    »Manche Berge reichen sogar darüber hinaus«, prahlte Ragen. »Wenn man auf dem Gipfel steht, schaut man hinunter auf die Wolken.«
    »Eines Tages möchte ich das sehen«, seufzte Arlen.
    »Wenn du alt genug bist, kannst du ja der Kurier-Gilde beitreten«, schlug Ragen ihm vor.
    Arlen schüttelte den Kopf. »Mein Dad sagt, wer von zu Hause weggeht, ist ein Deserteur. Und wenn er das Wort ausspricht, spuckt er immer aus.«
    »Dein Dad weiß nicht, wovon er redet«, meinte Ragen. »Und eine falsche Meinung wird nicht dadurch richtig, dass man ausspuckt. Ohne Kuriere würden selbst die Freien Städte untergehen.«
    »Ich dachte, die Freien Städte seien sicher«, wunderte sich Arlen.
    »Es ist nirgendwo sicher, Arlen. Nicht wirklich. In Miln leben mehr Menschen als in einer Siedlung wie Tibbets Bach, und die Verluste lassen sich leichter verkraften. Trotzdem fordern die Horclinge jedes Jahr eine beträchtliche Anzahl von Opfern.«

    »Wie viele Einwohner hat Miln?«, erkundigte sich Arlen. »In Tibbets Bach wohnen neunhundert Leute, und das Dorf Sonnige Weide soll fast genauso groß sein.«
    »Nun, in Miln leben immerhin mehr als dreißigtausend Bürger«, erwiderte Ragen stolz.
    Verwirrt blickte Arlen ihn an.
    »Zehn mal hundert macht tausend«, half der Kurier ihm auf die Sprünge.
    Arlen dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte er den Kopf. »So viele Menschen gibt es auf der ganzen Welt nicht«, widersprach er.
    »Oh doch, und sogar noch mehr«, klärte Ragen ihn auf. »Da draußen wartet eine große, weite Welt auf all diejenigen, die mutig genug sind, der Finsternis zu trotzen.«
    Arlen gab keine Antwort, und eine Zeit lang saßen sie schweigend auf dem Karren.

    Der schwerfällig rumpelnde Karren brauchte anderthalb Stunden, um das Dorf Stadtplatz zu erreichen. Es war gleichzeitig das Zentrum der weit auseinandergezogenen Gemeinde Tibbets Bach und bestand aus ein paar Dutzend mit Schutzzeichen versiegelten Häusern, in denen Menschen wohnten, deren Beruf es nicht erforderte, auf den Äckern und Reisfeldern zu arbeiten oder sich durch Fischen und Holzfällen den Lebensunterhalt zu verdienen. Hierher kam man, wenn man die Dienste des Schneiders oder des Bäckers, des Hufschmieds, des Küfers oder irgendeines anderen Handwerkers benötigte.
    Im Ortskern befand sich der freie Platz, auf dem sich die Leute versammelten, und außerdem das größte Gebäude in der Gemeinde Tibbets Bach, der Gemischtwarenladen. In einem
großen, nach vorn gelegenen offenen Raum waren Tische und der Ausschank untergebracht, eine dahinter angrenzende Halle war noch weitläufiger und diente als Vorratslager; in dem unterirdischen Keller wurde fast alles aufbewahrt, was in Tibbets Bach irgendeinen Wert darstellte.
    Für die Küche waren Ruscos Töchter zuständig, Dasy und Catrin. Zwei Kredits reichten aus, um sich eine sättigende Mahlzeit zu kaufen, aber Silvy behauptete, der alte Rusco Vielfraß sei ein Betrüger, denn mit zwei Kredits konnte man genug Getreide für eine ganze Woche erwerben. Trotzdem berappten viele der unverheirateten Männer den Preis, wobei sie nicht nur für das Essen löhnten. Dasy war hässlich und Catrin fett, doch Onkel Cholie meinte, die Kerle, die die beiden heiraten würden, hätten für den Rest ihres Lebens ausgesorgt.
    Jeder aus Tibbets Bach schleppte seine Waren zu Rusco, seien es Mais, Fleisch oder Pelze, Töpferwaren oder Tuche, Möbel oder Werkzeuge. Der Vielfraß nahm die Sachen in Empfang, schätzte sie und gewährte den Kunden Kredits, mit denen sie wiederum Sachen aus seinem Laden kaufen konnten.
    Doch die Waren schienen immer wesentlich mehr zu kosten, als Rusco selbst für sie bezahlt hatte. Arlen verstand genug von Zahlen, um das zu merken. Es gab häufig erbitterten Streit, wenn die Leute kamen, um ihre Erzeugnisse zu verhökern, aber der Vielfraß setzte die Preise fest und bekam normalerweise, was er verlangte. So ziemlich jeder hasste den Vielfraß, doch alle brauchten ihn, und so sah man

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