Das Lied der Dunkelheit
er das Thema und fasste den Scheiterhaufen ins Auge.
»Wir können weder dem Regen noch dem Wind noch der Kälte befehlen, wann sie genehm sind und wann nicht«, beschied ihm Selia. »Und auch den Horclingen gegenüber sind wir machtlos. Also muss das Leben auch nach einer Katastrophe weitergehen.«
»Gewiss, das Leben geht weiter«, pflichtete Ragen ihr bei. »Aber wenn ich oder mein Jongleur irgendetwas für euch tun können, so gebt uns Bescheid. Ich bin kräftig, und ich habe schon oft Verletzungen durch Horclinge behandelt.«
»Dein Jongleur hilft uns bereits«, erklärte Selia und deutete mit einem Kopfnicken auf den jungen Mann, der Lieder sang und allerlei Tricks vollführte. »Er sorgt für Zerstreuung und lenkt die Kinder von dem Elend ab, während die Älteren arbeiten. Und was dich betrifft, Ragen … nun, während der nächsten paar Tage habe ich alle Hände voll zu tun, wenn wir uns von dieser Heimsuchung erholen wollen. Ich werde nicht die Zeit haben, um die Briefe zu verteilen und denjenigen,
die das Alphabet nicht gelernt haben, den Inhalt vorzulesen.«
»Das Vorlesen kann ich übernehmen, werte Dame«, erbot sich Ragen, »aber um die Briefe abzuliefern, kenne ich euren Sprengel zu wenig.«
»Wir brauchen weder beim Vorlesen noch beim Verteilen der Post deine Hilfe«, erwiderte Selia, während sie gleichzeitig Arlen nach vorn schob. »Arlen wird dich zum Gemischtwarenladen im Weiler Stadtplatz bringen. Wenn du dort das Salz ablieferst, gibst du die Briefe und Päckchen an Rusco Vielfraß weiter. Die meisten Leute aus dieser Gegend werden angerannt kommen, um sich mit Salz einzudecken, und Rusco gehört zu den wenigen im Sprengel, die schreiben, lesen und rechnen können. Der alte Ganove wird sich beklagen und auf Bezahlung bestehen, aber du sagst ihm, dass in Zeiten der Not die ganze Gemeinde zusammenhalten muss. Sag ihm, er soll die Briefe austeilen und den Inhalt vorlesen, wenn der Empfänger selbst dazu nicht in der Lage ist. Falls er sich stur stellt, richtest du ihm von mir aus, ich würde keinen Finger krümmen um ihn zu retten, wenn man ihm das nächste Mal eine Schlinge um den Hals legt und ihn aufhängen will.«
Ragen fasste Selia argwöhnisch ins Auge, als wüsste er nicht recht, ob sie im Ernst sprach oder sich nur einen Scherz erlaubte. Doch aus ihrer versteinerten Miene wurde er nicht schlau. Also machte er eine dritte Verbeugung.
»Und jetzt beeilt euch, Ragen und Arlen«, fuhr Selia energisch fort. »Nehmt die Beine in die Hand, damit ihr rechtzeitig wieder zurück seid, wenn die Leute hier den Platz räumen und sich zur Nacht in Sicherheit bringen. Und nur damit du Bescheid weißt, Ragen«, ergänzte sie, »wenn du und dein Jongleur Rusco nicht für ein Quartier bezahlen wollt, dann könnt ihr gern bei jemand anders übernachten. Jeder hier wird sich
darum reißen, euch in sein Haus aufzunehmen.« Nachdem sie den Kurier und Arlen davongescheucht hatte, drehte sie sich um und schimpfte mit den Umstehenden, die ihre Arbeit unterbrochen hatten, um die Neuankömmlinge zu begaffen.
»Ist sie immer so … resolut?«, erkundigte sich Ragen bei Arlen, als sie zu dem Jongleur gingen, der die jüngsten Kinder mit allerlei Schabernack und Pantomimen unterhielt. Die anderen Leute waren von Selia wieder an ihre Arbeit getrieben worden.
Arlen schnaubte durch die Nase. »Du solltest hören, wie sie mit den Graubärten umspringt. Du hattest noch Glück, dass sie dir nicht das Fell vom Leib gezogen hat, als du sie ›Selia die Unfruchtbare‹ genannt hast.«
»Graig sagte mir, jeder hier würde sie so nennen«, wehrte sich Ragen.
»Das stimmt ja auch«, bestätigte Arlen, »nur wagt es keiner, es ihr ins Gesicht zu sagen. Genauso gut könnte man einen Horcling bei den Hörnern packen. Jeder hier tanzt nach Selias Pfeife.«
Ragen gluckste vergnügt. »Und dabei ist sie eine alte Jungfer. Eine ›alte Tochter‹, würde man bei mir zu Hause sagen«, sinnierte er. »Wo ich herkomme, erwarten nur Mütter, dass man ihren Befehlen gehorcht.«
»Und warum ist das so?«, fragte Arlen.
Ragen zuckte die Achseln. »Weiß ich auch nicht«, räumte er ein. »Aber so läuft das nun mal in Miln. Die Menschen sorgen dafür, dass die Welt sich dreht, und Mütter bringen neue Menschen hervor. Deshalb haben sie zu bestimmen.«
»Bei uns wird das nicht so gemacht«, erwiderte Arlen.
»In kleinen Städten oder Gemeinden gelten andere Gesetze«, meinte Ragen. »Es liegt wohl ganz einfach daran, dass die
Weitere Kostenlose Bücher