Das Lied der Dunkelheit
die Schnauze mit einem Speer von mittlerer Länge vertreibt normalerweise einen einsamen Wolf. Wenn das nicht genügt, wendet man dieselbe Taktik an wie bei Löwen.«
»Angenommen, du bekommst es mit einem ganzen Rudel zu tun?«, fuhr Cob fort.
»Wölfe fürchten sich vor Feuer.«
»Und was machst du, wenn du einem wilden Eber begegnest?«, wollte Cob wissen.
Arlen lachte. »Vor einem Keiler rennt man weg, als sei der ganze Horc hinter einem her«, zitierte er seine Lehrer.
Arlen erwachte auf einem Stapel Bücher. Einen Moment lang hatte er keine Ahnung, wo er war, bis ihm dann einfiel, dass er schon wieder in der Bibliothek eingeschlafen war. Er blickte aus dem Fenster und sah, dass die Nacht längst hereingebrochen war. Als er seinen Hals reckte und nach oben spähte, konnte er den geisterhaften Umriss eines Winddämons ausmachen, der in großer Höhe über der Stadt kreiste. Elissa musste außer sich sein vor Angst.
Er hatte in uralten Geschichtsbüchern geschmökert, die aus dem Zeitalter der Wissenschaft stammten. Sie berichteten von den längst untergegangenen Königreichen der alten Welt, Albinon, Thesa, Groß Linm und Rusk, und beschrieben Ozeane, riesige Seen von schier unvorstellbarer Größe, an deren entfernten Ufern weitere Königreiche lagen. Eine unglaublich spannende Lektüre. Wenn es stimmte, was in den Büchern stand, dann war die Welt noch viel faszinierender, als er gedacht hatte.
Er blätterte in dem aufgeschlagenen Folianten, auf dem er eingenickt war, und zu seiner Überraschung entdeckte er eine Landkarte. Als er die Ortsnamen las, stutzte er. Hier war ohne jeden Zweifel das Herzogtum Miln dargestellt. Er nahm die Karte genauer in Augenschein und fand den Fluss, aus dem Fort Miln einen großen Teil seiner Trinkwasservorräte bezog, und dahinter war der Gebirgszug eingezeichnet. Der kleine Stern inmitten des Gebirges kennzeichnete wohl die Hauptstadt.
Er überschlug ein paar Seiten, bis er eine Passage fand, in dem das alte Miln geschildert wurde. Bereits damals hatte man hier Bergbau betrieben und Steinbrüche ausgebeutet, und das lehnspflichtige Gebiet, das Vasallentum, dehnte sich Dutzende von Meilen weit aus. Herzog Euchors Machtbereich umfasste mehrere Städte und Dörfer und endete am Grenzfluss, hinter dem das Herzogtum Angiers begann.
Arlen erinnerte sich an seine eigene Reise und verfolgte die Route zurück bis zu der Stelle, an der er zufällig auf die Ruinen gestoßen war. Er erfuhr, dass das Anwesen einst dem Grafen Newkirk gehört hatte. Beinahe zitternd vor Aufregung studierte Arlen weiter die Karte und entdeckte schließlich, wonach er gesucht hatte - eine kleine Wasserstraße, die in einen großen Teich mündete.
Die Baronie Tibbet.
Baron Tibbet, Graf Newkirk und andere Machthaber waren Miln tributpflichtig gewesen; Miln und Angiers wiederum hatten dem König von Thesa Lehnstreue geschuldet.
»Thesaner«, flüsterte Arlen und ließ sich dieses Wort auf der Zunge zergehen. »Wir sind alle Thesaner.«
Er griff nach einem Schreibstift und machte sich daran, die Karte zu kopieren.
»Ihr beide dürft diesen Namen nie wieder aussprechen!«, tadelte Ronnell Arlen und seine Tochter.
»Aber …«, begann Arlen.
»Glaubst du etwa, das sei nicht bekannt? Dass du eine neue Entdeckung gemacht hättest?«, fiel der Oberste Bibliothekar ihm ins Wort. »Seine Gnaden hat angeordnet, dass jeder, der diesen Begriff in den Mund nimmt, verhaftet wird. Willst du etwa jahrelang in den Minen schmachten oder in einem Steinbruch schuften?«
»Warum ist das so?«, wollte Arlen wissen. »Was kann es denn schaden, darüber zu reden?«
»Bevor der Herzog die Bibliothek schließen ließ«, erklärte Ronnell, »waren manche Leute geradezu besessen von Thesa. Sie beschäftigten sich unentwegt damit und versuchten Kuriere
anzuheuern, die diese vergessenen Stätten aufsuchen sollten.«
»Und was soll daran verkehrt sein?«, wunderte sich Arlen.
»Der König ist seit dreihundert Jahren tot«, erwiderte Ronnell, »und eher ziehen die Herzöge in den Krieg, als dass sie vor jemandem das Knie beugen. Sie wollen sich ihre Unabhängigkeit um jeden Preis bewahren. Gespräche über eine Wiedervereinigung ruft den Menschen Dinge ins Gedächtnis zurück, an die sie sich nicht erinnern sollen.«
»Lieber gibt man vor, dass hinter den Stadtmauern von Miln die Welt zu Ende ist?«, versetzte Arlen spöttisch.
»In gewissem Sinne ist sie das auch«, bekräftigte Ronnell. »Jedenfalls so lange, bis der
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