Das Lied der Dunkelheit
Miene hinterherzulaufen.
»Sie ist es nicht gewöhnt, dass man sie links liegen lässt«, erklärte Ronnell belustigt.
»VR«, las Arlen die Inschrift auf dem Bogengang, der den abgesperrten Teil überspannte. »Was mag das bedeuten?«, murmelte er wie im Selbstgespräch.
»Vor der Rückkehr«, erläuterte Mery. »In diesem Raum werden Originalwerke aufbewahrt, die noch aus der alten Welt stammen.«
Arlen wandte sich dem Mädchen zu, als habe er ihre Anwesenheit gerade erst bemerkt. »Tatsächlich?«, staunte er.
»Ohne die Erlaubnis des Herzogs darf dort niemand hinein. Es ist streng verboten«, erklärte Mery und sah, wie Arlen vor Enttäuschung das Gesicht verzog. »Aber dank meines Vaters habe ich natürlich freien Zutritt.« Sie lächelte.
»Und wer ist dein Vater?«, fragte Arlen.
»Der Fürsorger Ronnell, aber das sagte ich bereits. Ich bin Mery, seine Tochter.«
Arlen riss die Augen auf und verbeugte sich linkisch. »Und ich bin Arlen von Tibbets Bach«, stellte er sich vor.
Cob, der zusammen mit Ronnell die Szene verfolgte, gluckste in sich hinein. »Der arme Junge hatte nicht die geringste Chance.«
Arlen merkte gar nicht, wie ein Monat in den anderen überging, während er sich einer mittlerweile vertrauten Routine hingab. Ragens Villa lag näher an der Bibliothek als Cobs Hütte, deshalb übernachtete er meistens dort. Der Knochenbruch, den der Kurier sich beim Kampf mit den Horclingen zugezogen hatte, verheilte rasch, und es dauerte nicht lange, bis er wieder auf der Straße unterwegs war. Elissa betonte ständig, Arlen solle sich in dem ihm zugewiesenen Zimmer wie zu Hause fühlen, und sie schien sich zu freuen, als er es nach und nach mit seinen Werkzeugen und Büchern vollstopfte. Die Dienerschaft nahm seine Anwesenheit mit großer Genugtuung zur Kenntnis, und man sagte ihm frei heraus, dass Lady Elissa viel umgänglicher sei, wenn Arlen bei ihr in der Villa wohnte.
Der Junge pflegte eine Stunde vor Sonnenaufgang aus dem Bett zu springen und bei Lampenlicht in der großen Eingangshalle
den Umgang mit dem Speer zu üben. Sobald die Sonne über dem Horizont auftauchte, schlüpfte er auf den Hof hinaus und trainierte draußen eine Stunde lang weiter; er schleuderte den Speer auf Zielscheiben und vervollkommnete seine Reitkünste. Danach frühstückte er in aller Eile zusammen mit Elissa - und Ragen, wenn dieser daheim war -, ehe er zur Bibliothek marschierte.
Wenn er dort eintraf, war es immer noch sehr früh; außer Ronnells Schülern und Gehilfen, die in Zellen unter dem weitläufigen Gebäude schliefen, war niemand dort. Die Männer blieben auf Distanz zu Arlen, dessen Benehmen ihnen eine gewisse Ehrfurcht einflößte, denn der Junge dachte sich nichts dabei, einfach zu ihrem Herrn zu spazieren und ohne Aufforderung oder Erlaubnis mit ihm zu sprechen.
Eine kleine, abseits liegende Kammer hatte man ihm als Werkstatt zugewiesen. Das Kabuff war gerade mal groß genug für zwei Bücherregale, seine Werkbank und das Möbelstück, an dem er gerade arbeitete. In einem Regal bewahrte er Farben, Pinsel und Schnitzgeräte auf. Das andere war angefüllt mit geliehenen Büchern. Auf dem Boden lag eine dicke Schicht aus Hobelspänen, die fleckig waren von vergossener Farbe und Lackfirnis.
An jedem Morgen nahm sich Arlen zuerst eine Stunde Zeit zum Lesen; danach legte er widerstrebend das Buch zur Seite und begann mit der Arbeit. Ein paar Wochen lang schmückte er ausschließlich Stühle mit den magischen Schutzzeichen. Als Nächstes nahm er sich die Sitzbänke vor. Der Auftrag dauerte sogar noch länger als erwartet, doch das störte Arlen nicht.
Im Verlauf dieser Monate stellten Merys Besuche eine willkommene Abwechslung dar. Häufig schaute sie in der kleinen Werkstatt vorbei, um ihm ein freundliches Lächeln zu gönnen oder um mit ihm zu plaudern, bevor sie wieder losflitzte, um sich ihren eigenen Pflichten zu widmen. Anfangs hatte Arlen
gedacht, diese Ablenkung von seiner Arbeit und seinen Studien würden ihm auf Dauer lästig werden, doch das Gegenteil war der Fall. Er freute sich darauf, Mery zu sehen, und an Tagen, an denen sie ihn nicht so oft aufsuchte wie sonst, ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken unablässig um das Mädchen kreisten. Das Mittagessen verzehrten sie gemeinsam auf dem breiten Dach der Bibliothek, von dem aus man die Stadt und die dahinter aufragenden Berge überblickte.
Mery unterschied sich von allen anderen Mädchen, die Arlen jemals gekannt hatte. Als Tochter
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