Das Lied der Dunkelheit
des herzoglichen Bibliothekars und führenden Historikers war sie vielleicht das gebildetste Mädchen in der ganzen Stadt, und Arlen merkte sehr schnell, dass er durch die Gespräche mit ihr genauso viel lernen konnte wie durch die Lektüre irgendeines Buches. Aber Mery führte ein einsames Leben. Ronnells Schüler betrachteten sie mit noch mehr Respekt als Arlen, und sonst gab es in der Bibliothek niemanden in ihrem Alter. Völlig unbefangen diskutierte das Mädchen mit graubärtigen Gelehrten, doch in Arlens Gegenwart wirkte sie schüchtern und unsicher.
Eben genauso wie er sich fühlte, wenn er mit ihr zusammen war.
»Beim Schöpfer, Jaik, das klingt ja, als hättest du überhaupt nicht geübt«, lästerte Arlen und hielt sich die Ohren zu.
»Sei nicht gemein, Arlen«, schimpfte Mery. »Dein Lied war wunderschön«, tröstete sie dann Jaik.
Der Junge zog die Stirn kraus. »Und warum steckst du dir dann die Finger in die Ohren?«
»Nun ja«, erwiderte sie, senkte die Hände und setzte ein strahlendes Lächeln auf, »mein Vater sagt, Musik und Tanzen führen
dazu, dass man sündigt. Deshalb konnte ich natürlich nicht zuhören, aber ich bin mir sicher, dass es herrlich geklungen hat.« Während Arlen lachte, zog Jaik eine finstere Miene und legte die Laute beiseite.
»Versuche jetzt mal zu jonglieren«, schlug Mery vor.
»Bist du sicher, dass es keine Sünde ist, mir beim Jonglieren zuzuschauen?«, spottete Jaik.
»Nicht, wenn du deine Sache gut machst«, murmelte sie, und Arlen bog sich wieder vor Lachen.
Jaiks Laute war alt und ramponiert; nie war die Bespannung komplett, irgendeine Saite fehlte immer. Nun bückte er sich und kramte bunte Holzbälle aus dem kleinen Beutel, in dem er seine Jongleurausrüstung aufbewahrte. Die Farbe auf den Kugeln blätterte ab, und das Holz wies Risse auf. Munter warf er einen Ball in die Luft, dann einen zweiten und dritten. Ein paar Sekunden lang jonglierte er sie, und begeistert klatschte Mery in die Hände.
»Toll! Das ist schon viel besser«, lobte sie.
Jaik grinste. »Jetzt passt mal auf!«, rief er und hangelte nach dem vierten Ball.
Arlen und Mery zuckten zusammen, als sämtliche Kugeln klappernd auf dem Kopfsteinpflaster landeten.
Jaik lief rot an. »Vielleicht sollte ich zuerst noch ein bisschen mehr mit drei Bällen üben«, meinte er.
»Du solltest überhaupt mehr üben«, kommentierte Arlen.
»Mein Dad sieht es nicht gern«, gab Jaik zu. »Er sagt dann immer gleich: ›Wenn du nichts Besseres zu tun hast als Jonglieren, Junge, dann gebe ich dir eine nützliche Arbeit.‹«
»Mein Vater mag es nicht, wenn er mich beim Tanzen erwischt«, erzählte Mery.
Erwartungsvoll sahen die beiden Arlen an. »Mein Dad konnte es auch nicht ausstehen, wenn ich meine Zeit mit Sachen
verplempert habe, die seiner Ansicht nach sinnlos waren«, räumte er ein.
»Und Meister Cob lässt dich einfach gewähren?«, fragte Jaik.
Arlen zuckte mit den Schultern. »Er hat nichts an mir auszusetzen. Schließlich tue ich alles, was er von mir verlangt.«
»Und woher nimmst du dann die Zeit, um das Kuriertraining zu absolvieren?«, wunderte sich Jaik.
»Irgendwie richte ich es schon ein.«
»Aber wie machst du das?«, wollte Jaik wissen.
Arlen runzelte die Stirn. »Früher aufstehen. Länger wach bleiben. Sich nach den Mahlzeiten wegschleichen. Was immer nötig ist. Oder möchtest du lieber für den Rest deines Lebens ein Müller bleiben?«
»Es ist doch nicht schlimm, Müller zu sein, Arlen«, warf Mery ein.
Jaik schüttelte den Kopf. »Er hat ja Recht«, pflichtete er Arlen bei. »Wenn es mir wirklich Ernst damit ist, eines Tages als Jongleur aufzutreten, muss ich hart daran arbeiten.« Er sah Arlen an. »Ich werde mehr üben«, versprach er ihm.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Arlen grinsend. »Wenn du es nicht schaffst, die Dorfbewohner zu unterhalten, dann sattelst du eben um. Mit deinem Gesang kannst du unterwegs auf der Straße die Dämonen vertreiben und dir auf diese Weise deinen Lebensunterhalt verdienen.«
Jaik kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Mery lachte, als er plötzlich anfing, mit seinen Jongleurbällen nach Arlen zu werfen.
»Ein guter Jongleur würde mich treffen«, zog Arlen ihn auf, während er jedem Geschoss geschickt auswich.
»Du streckst den Arm viel zu weit nach vorn!«, rief Cob. Um zu demonstrieren, was er meinte, nahm Ragen eine Hand von seinem Schild und packte Arlens Speer direkt unterhalb der Spitze, ehe der Junge die
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