Das Lied der Dunkelheit
langsam, während Maricks Stimmung nach jedem erfolglosen nächtlichen Versuch, in sie einzudringen,
noch verzweifelter wurde. In der letzten Nacht betrank er sich mit Wein und schien kurz davor zu stehen, aus dem Bannzirkel herauszuspringen und sich von den Horclingen in Stücke reißen zu lassen. Leesha atmete erleichtert auf, als sie endlich die Waldfestung erblickte. Sie staunte über die hohen Schutzwälle mit den mächtigen, lackierten Siegeln; diese Bastion war so groß, dass ihr Heimatdorf viele Male hineingepasst hätte.
Die Straßen von Angiers waren mit Holz bedeckt, um zu verhindern, dass Dämonen den Boden durchbrachen. Der gesamte Ort glich einer riesigen, verzweigten Plankenbrücke. Marick ritt mit ihr tief in die Stadt hinein und setzte sie vor Jizells Hospital ab. Als sie sich umdrehte und hineingehen wollte, beugte er sich vom Pferd hinunter, packte ihren Arm und drückte schmerzhaft zu.
»Was jenseits dieser Wälle passiert ist«, knurrte er, »bleibt unter uns!«
»Ich erzähle es niemandem«, versprach Leesha.
»Das wäre auch besser für dich«, fuhr Marick übellaunig fort. »Denn wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen verrätst, bringe ich dich um.«
»Ich schwöre, dass ich den Mund halten werde«, betonte Leesha. »Du hast das Ehrenwort einer Kräutersammlerin.«
Marick grunzte verächtlich, ließ ihren Arm aber los; dann riss er brutal am Zügel seines Renners und sprengte im leichten Galopp davon.
Ein Lächeln umspielte Leeshas Mundwinkel, als sie ihr Gepäck nahm und auf das Hospital zusteuerte.
15
Fiedel mir ein Vermögen zusammen
325 NR
D a war Rauch und Feuer, und in das Gebrüll der Horclinge mischten sich die Schmerzensschreie einer Frau.
Ich hab dich lieb!
Mit einem Ruck wurde Rojer wach. Sein Herz raste. Über den hohen Schutzwällen von Fort Angiers war die Morgendämmerung angebrochen, und weiches Licht stahl sich durch die Risse in den Fensterläden. Während es immer heller wurde, hielt er seinen Talisman fest in der unversehrten Hand und wartete darauf, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Die winzige Puppe, die er als Kind aus Holz und Bindfaden gebastelt und mit der roten Haarlocke gekrönt hatte, war alles, was ihm von seiner Mutter geblieben war.
Er erinnerte sich nicht mehr an ihr Gesicht, das im Qualm verschwand, denn das meiste, was in jener Nacht geschehen war, hatte er vergessen; doch ihre letzten Worte hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt, und in seinen Träumen hörte er sie immer und immer wieder.
Ich hab dich lieb!
Er rieb die Haare zwischen Daumen und Ringfinger seiner
verkrüppelten Hand. An der Stelle, an der früher sein Zeigefinger und der Mittelfinger gewesen waren, gab es jetzt nur noch eine wulstige Narbe, und nur der Opferbereitschaft seiner Mutter hatte er es zu verdanken, dass die Horclinge ihm lediglich zwei Finger genommen hatten und nicht auch noch sein Leben.
Ich hab dich lieb!
Der Talisman war Rojers heimliches Schutzsiegel, von dem nicht einmal Arrick etwas wusste, der sich seiner angenommen hatte wie ein Vater. Das Püppchen mit den Haaren seiner Mutter half ihm, die langen Nächte zu überstehen, wenn die Dunkelheit ihn bedrohlich einhüllte und die Schreie der Horclinge ihn vor Angst zittern ließen.
Doch jetzt war ein neuer Tag angebrochen, und das Licht vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Er küsste die kleine Puppe und steckte sie in die Geheimtasche zurück, die er in den Bund seiner farbenfrohen Hose genäht hatte. Allein das Wissen, dass sich dort sein Talisman befand, machte ihm Mut. Rojer war zehn Jahre alt.
Er stand von seiner Strohmatratze auf, streckte sich und stolperte gähnend aus der engen Kammer. Seine Zuversicht sank, als er Arrick erblickte, der am Tisch eingeschlafen war. Sein Meister war über einer leeren Flasche zusammengesackt, die Hände fest um deren Hals gekrallt, als wolle er die letzten Tropfen rausquetschen.
Nicht nur Rojer hatte einen Trostspender.
Der Junge ging hin und löste die Flasche aus den Fingern seines Meisters.
»Wersda? Wasislos?«, nuschelte Arrick und hob den Kopf ein wenig von der Tischplatte.
»Du bist schon wieder am Tisch eingenickt«, erklärte Rojer.
»Ach, du bist es, Junge«, grunzte Arrick. »Dachte schon, das wäre wieder der raffgierige Gastwirt.«
»Die Miete ist längst überfällig«, erwiderte Rojer. »Es ist geplant, dass wir heute Morgen auf dem Kleinen Platz auftreten.«
»Die Miete«, brummelte Arrick. »Immer
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