Das Lied der Dunkelheit
ich nie etwas anderes sein wollte als Kurier. Trotzdem bist du jetzt bei mir.«
»Ich dachte, du könntest dich ändern«, erwiderte Mery. »Ich hatte gehofft, du könntest dich von dieser Wahnvorstellung lösen, dass du irgendwie ein Gefangener bist und dein Leben riskieren müsstest, um dich zu befreien. Und ich hatte angenommen, dass du mich liebst!«
»Ich liebe dich!«, beteuerte Arlen.
»Aber nicht genug, um deine Kuriertätigkeit aufzugeben«, warf sie ihm vor. Arlen widersprach ihr nicht.
»Wie kannst du mich lieben und trotzdem nicht bereit sein, auf mich Rücksicht zu nehmen?«, wollte sie wissen.
»Ragen liebt Elissa doch auch«, erwiderte Arlen. »Es ist möglich, eine Frau zu lieben und gleichzeitig Kurier zu sein.«
»Elissa hasst Ragens Beruf«, konterte Mery. »Das hast du selbst gesagt.«
»Nichtsdestotrotz sind sie seit fünfzehn Jahren verheiratet«, meinte Ragen.
»Willst du mir dieses Leben zumuten?«, fragte Mery. »Schlaflose Nächte, wenn ich allein bin und nicht weiß, ob du jemals zurückkommst? Dass ich ständig darüber nachgrüble, ob du schon tot bist oder dich vielleicht mit irgendeinem Mädchen in einer anderen Stadt vergnügst?«
»So etwas würde mir im Traum nicht einfallen«, wehrte sich Arlen.
»Bei allen Ausgeburten des Horc, du wirst mich wirklich niemals hintergehen«, erwiderte Mery, während ihr die Tränen über die Wangen strömten. »So weit lasse ich es gar nicht erst kommen. Wir zwei sind nämlich fertig miteinander!«
»Mery, bitte!« Arlen wollte sie in die Arme schließen, doch sie wich seiner Berührung aus.
»Wir haben uns nichts mehr zu sagen.« Sie wandte sich von ihm ab und rannte zum Haus ihres Vaters.
Arlen blieb stehen und starrte ihr nach. Die Schatten wurden länger und die Sonne versank unter dem Horizont, doch selbst als die Letzte Glocke ertönte und die Menschen aufforderte, Schutz zu suchen, rührte er sich nicht von der Stelle. Schließlich setzte er sich mit schlurfenden Schritten in Bewegung.
Während die Sohlen seiner Stiefel über das Kopfsteinpflaster scharrten, wünschte er sich, die Horclinge könnten durch den verarbeiteten Fels nach oben brechen und ihn verschlingen.
»Arlen! Beim Schöpfer, was machst du hier?«, schrie Elissa, als er die Villa betrat, und lief ihm entgegen. »Als du bei Sonnenuntergang nicht hier warst, dachten wir, du würdest bei Cob übernachten!«
»Ich brauchte nur etwas Zeit, um nachzudenken«, murmelte Arlen.
»Draußen im Dunkeln?«
Arlen zuckte mit den Schultern. »Die Stadt ist durch Siegel geschützt. Nirgendwo gab es Horclinge.«
Elissa öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch dann sah sie den Blick in Arlens Augen, und kein Vorwurf kam über ihre Lippen. »Arlen, was ist passiert?«, fragte sie leise.
»Ich habe Mery dasselbe erzählt, was ich dir auch gesagt habe.« Arlen gab ein hohl klingendes Lachen von sich. »Sie war nicht so verständnisvoll wie du.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass ich für deine Ansicht Verständnis aufgebracht hätte.«
»Jetzt weißt du, was ich meine«, entgegnete Arlen und wandte sich zur Treppe. Oben in seinem Zimmer riss er das Fenster weit auf, atmete die kalte Nachtluft ein und spähte nach draußen in die Dunkelheit.
Am nächsten Morgen suchte er den Gildemeister Malcum auf.
Die kleine Marya fing noch vor dem Morgengrauen an zu schreien, doch darüber war Elissa eher erleichtert als ungehalten. Sie hatte Geschichten von Kindern gehört, die mitten in der Nacht gestorben waren. Die Vorstellung, ihrer eigenen Tochter könnte so etwas zustoßen, machte ihr solche Angst, dass man ihr die Kleine gewaltsam aus den Armen nehmen musste, wenn es Zeit war, zu Bett zu gehen. Und wenn Elissa dann einschlief, wurde sie von Alpträumen gequält.
Nun schwang sie die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und entblößte eine Brust, um Marya zu stillen. Das Mädchen biss ihr in die Brustwarze, doch selbst der Schmerz war ihr willkommen, weil er zeigte, wie kräftig ihre über alles geliebte Tochter war. »Gut so, mein Schatz«, gurrte sie, »trink und werde stark.«
Während sie das Kind stillte, wanderte sie im Zimmer auf und ab; schon jetzt fürchtete sie sich vor dem Augenblick, wenn sie sich wieder von Marya trennen musste. Ragen lag friedlich schnarchend im Bett. Bereits wenige Wochen nachdem er den Kurierdienst aufgegeben hatte, fing er an, besser zu schlafen. Immer seltener plagten ihn böse Träume, und sie und Marya nahmen seine Zeit in
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