Das Lied der Dunkelheit
ein Irrtum. Was glaubst du, weshalb Ragen ständig als Kurier unterwegs ist? Nicht des Geldes wegen, er besitzt mehr, als er ausgeben kann.«
»Ragen steht im Dienste des Herzogs. Er ist verpflichtet, diesen Beruf auszuüben, weil es außer ihm niemand kann.«
Arlen schnaubte durch die Nase. »Es gibt noch mehr Kuriere, Elissa, und Ragen sieht auf den Herzog herab, als wäre er irgendein Ungeziefer. Er ist kein Kurier aus Loyalität oder wegen der Ehre. Sondern weil er die Wahrheit kennt.«
»Welche Wahrheit?«
»Dass es hinter dieser Stadt noch eine andere Welt gibt. Dass da draußen hinter den Mauern mehr liegt, als sich innerhalb der Wälle befindet.«
»Ich bin schwanger, Arlen«, bekannte Elissa. »Was denkst du, wird Ragen sich dadurch ändern?«
Arlen ließ sich Zeit mit der Antwort. »Meinen Glückwunsch«, meinte er dann. »Ich weiß, wie sehr du dir ein Kind wünschst.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Vermutlich erwartest du von Ragen, dass er seinen Beruf aufgibt. Ein Vater kann schließlich nicht ständig sein Leben riskieren, oder?«
»Es gibt noch andere Möglichkeiten, um gegen die Dämonen zu kämpfen, Arlen. Die Geburt eines jeden Kindes ist ein Sieg über sie.«
»Du redest genauso wie mein Vater.«
Elissa war überrascht. Solange sie Arlen kannte, hatte er noch nie ein Wort über seine Eltern verloren.
»Er scheint ein weiser Mann zu sein«, entgegnete sie leise.
Sie hatte das Falsche gesagt, das merkte sie sofort. Arlens Züge verhärteten sich, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte, und nahmen einen geradezu erschreckenden Ausdruck an.
»Mein Vater war nicht weise!«, brüllte Arlen und warf einen Becher voller Pinsel auf den Boden. Das Gefäß zerbarst, und farbige Tropfen spritzten in alle Richtungen. »Er war ein Feigling! Er ließ meine Mutter sterben! Er ließ sie sterben …« Sein
Gesicht verzerrte sich zu einer gequälten Grimasse, er taumelte und ballte die Fäuste. Elissa eilte zu ihm, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie tun oder sagen sollte; sie wusste nur eines - sie wollte ihn in die Arme schließen.
»Er ließ sie sterben, weil er sich so schrecklich vor der Nacht fürchtete«, flüsterte Arlen. Er versuchte, sich gegen ihre Umarmung zu sträuben, doch sie hielt ihn fest an sich gedrückt, während er weinte.
Eine lange Zeit hielt sie ihn in den Armen und streichelte über sein Haar. Nach einer Weile wisperte sie in sein Ohr: »Komm nach Hause, Arlen.«
Während seines letzten Lehrjahres wohnte Arlen wieder bei Ragen und Elissa, doch ihre Beziehung hatte sich geändert. Er war jetzt sein eigener Herr, und nicht einmal Elissa mischte sich in seine Entscheidungen ein. Zu ihrer Überraschung brachte ihre Zurückhaltung sie einander näher. Arlen kümmerte sich voller Zärtlichkeit um sie, während ihr Bauch immer stärker anschwoll, und er und Ragen richteten ihre Touren so ein, dass sie niemals allein war.
Arlen verbrachte auch viel Zeit mit Elissas Hebamme, einer Kräutersammlerin. Ragen hatte ihm erklärt, ein Kurier müsse sich ein wenig in den Künsten einer Kräutersammlerin auskennen, deshalb suchte Arlen für die Frau Pflanzen und Wurzeln, die außerhalb der Stadtmauern wuchsen, und im Gegenzug brachte sie ihm ein paar wichtige Grundlagen der Heilkunst bei.
In diesen Monaten blieb Ragen stets in der näheren Umgebung von Miln, und an dem Tag, als seine Tochter Marya
geboren wurde, stellte er seinen Kurierspeer für immer zur Seite. Die ganze darauf folgende Nacht verbrachten er und Cob damit, zu zechen und unzählige Trinksprüche auszubringen.
Arlen saß bei ihnen, aber er starrte nur gedankenverloren in sein Glas.
»Wir sollten Pläne machen«, erklärte Mery eines Abends, als sie und Arlen zum Haus ihres Vaters gingen.
»Pläne?«, wiederholte Arlen verständnislos.
»Ja, für unsere Hochzeit, du Dummkopf!« Mery lachte. »Mein Vater würde nie zulassen, dass ich einen Lehrling heirate, aber sobald du ein Bannzeichner bist, wird er von nichts anderem mehr reden.«
»Sobald ich Kurier bin, meinst du wohl.«
Mery maß ihn mit einem ausgiebigen Blick. »Es wird höchste Zeit, dass du deine Touren einstellst, Arlen. Nicht mehr lange, und du wirst Vater.«
»Was hat eine Vaterschaft mit meiner Arbeit zu tun?«, fragte Arlen. »Viele Familienväter sind als Kuriere unterwegs.«
»Einen Kurier werde ich nicht heiraten«, erklärte Mery rundheraus. »Das weißt du. Du hast es immer gewusst.«
»Und du hast immer gewusst, dass
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