Das Lied der Dunkelheit
er es überhaupt jemals merkt?«, zweifelte Mery.
»Und ob«, lächelte Elissa. »Er wird es merken, verlass dich drauf.«
»Hast du Arlen heute schon gesehen?«, wandte sich Elissa gleich nach ihrer Ankunft an Margrit.
»Ja, Mutter«, antwortete die Frau. »Vor ein paar Stunden. Er hat ein bisschen Zeit bei Marya verbracht, dann ging er mit einer Tasche aus dem Haus.«
»Mit einer Tasche?«, wunderte sich Elissa.
Margrit zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich reitet er nach Hardens Hain oder sonst wohin.«
Elissa nickte. Es überraschte sie nicht, dass Arlen sich entschlossen hatte, die Stadt für ein, zwei Tage zu verlassen. »Spätestens morgen hat er seine Tour beendet«, sagte sie zu Mery. »Komm und sieh dir meine kleine Tochter an, ehe du gehst.«
Sie stiegen die Treppe hinauf. Elissa gab glucksende Laute von sich, als sie sich Maryas Bettchen näherte, und konnte es gar nicht abwarten, ihre Kleine auf den Arm zu nehmen. Doch sie verstummte abrupt, als sie das zusammengefaltete Blatt Papier sah, von dem ein Teil unter dem Baby hervorlugte.
Mit zitternden Händen nahm Elissa das Blatt und las laut vor:
Liebe Elissa, lieber Ragen, ich habe von der Kuriergilde einen Auftrag übernommen, der mich nach Lakton führt. Wenn ihr diese Zeilen lest, bin ich bereits auf dem Weg dorthin. Es tut mir leid, wenn
ich euch alle enttäuscht habe, weil ich nicht so sein konnte, wie ihr mich gern gehabt hättet.
Vielen Dank für alles. Ich werde euch nie vergessen. Arlen.
»Nein!«, schrie Mery. Sie drehte sich um, stob aus dem Zimmer und verließ rennend das Haus.
»Ragen!«, brüllte Elissa. »Ragen!!«
Ihr Mann kam zu ihr geeilt, und während er den Brief las, schüttelte er immer wieder traurig den Kopf. »Er läuft immer vor seinen Problemen davon«, grummelte er.
»Und?«, drängte Elissa.
»Was, und ?«, fragte Ragen.
»Reite los und suche ihn!«, schrie Elissa. »Bring ihn zurück!«
Ragen fixierte seine Frau mit einem strengen Blick, und ohne dass zwischen ihnen ein Wort gesprochen wurde, fochten sie einen Streit aus. Doch Elissa wusste von Anfang an, dass sie diese Schlacht verlieren würde, und schlug bald die Augen nieder.
»Es ist zu früh«, flüsterte sie. »Warum hätte er nicht noch einen Tag länger warten können?« Ragen zog sie an seine Brust, als sie in Tränen ausbrach.
»Arlen!«, kreischte Mery, während sie rannte. Sie gab sich keine Mühe mehr, ruhig zu wirken, sie wollte gar nicht mehr stark erscheinen und Arlen dazu bringen, dass er um sie kämpfte. Jetzt wollte sie ihn nur noch finden, ehe er fortging, und ihm sagen, dass sie ihn liebte und auch immer lieben würde, ganz gleich, für welchen Beruf er sich entschied.
In Rekordzeit gelangte sie an das Stadttor, völlig außer Atem, doch sie kam zu spät. Die Wachen berichteten ihr, dass Arlen bereits vor Stunden die Stadt verlassen hatte.
Tief in ihrem Herzen wusste Mery, dass er nie mehr zurückkehren würde. Wenn sie ihn für sich gewinnen wollte, musste sie ihm folgen. Sie hatte reiten gelernt; sie konnte sich von Ragen ein Pferd geben lassen und ihm hinterherjagen. Die erste Nacht würde er sicherlich im Schutz von Hardens Hain verbringen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie den Ort gerade noch rechtzeitig erreichen.
Sie rannte zur Villa zurück; die Angst, Arlen für immer zu verlieren, verlieh ihr frische Kräfte. »Er ist fort!«, schrie sie Elissa und Ragen entgegen. »Ich brauche ein Pferd!«
Ragen schüttelte den Kopf. »Die Mittagsstunde ist schon vorbei. Du schaffst es niemals, früh genug in Hardens Hain anzukommen. Auf halber Strecke würden die Horclinge dich in Stücke reißen.«
»Das ist mir egal!«, heulte Mery. »Ich muss es versuchen!« Sie sauste zu den Ställen, aber Ragen holte sie ein und hielt sie fest. Um sich von ihm zu befreien, schrie sie und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein, aber er blieb standhaft wie ein Fels und ließ sie nicht los. Nichts, was sie tat, konnte ihn dazu bewegen, seinen Griff zu lockern.
Plötzlich verstand Mery, was Arlen gemeint hatte, als er sagte, Miln sei ein Gefängnis. Und sie erkannte nun auch, was es hieß, eine große Leere in sich zu spüren.
Es war schon spät, als Cob den kleinen Brief fand, der in dem Geschäftsbuch auf der Verkaufstheke steckte. Mit schlichten
Worten bat Arlen seinen Meister um Verzeihung, weil er ihn vor Ablauf der vereinbarten sieben Jahre verließ. Er hoffe, Cob würde ihn verstehen. Cob las den Brief immer und immer wieder, bis er ihn
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