Das Lied der Dunkelheit
Anspruch, damit er sich nicht langweilte und wieder in Versuchung käme, sich erneut auf Reisen zu begeben.
Als Marya sich sattgetrunken hatte, machte sie ein zufriedenes Bäuerchen und döste ein. Elissa küsste sie und legte sie in ihr Bettchen zurück. Dann öffnete sie die Tür des ehelichen Schlafgemachs. Auf dem Korridor wartete Margrit auf sie, wie immer.
»Guten Morgen, Mutter Elissa«, grüßte die Frau. Der Titel und die ehrliche Zuneigung, mit der er ausgesprochen wurde, erfüllten Elissa auch jetzt noch mit Freude. Obwohl Margrit ihre Dienerin war, hatten die beiden Frauen vor Maryas Geburt
niemals in der einen Hinsicht auf einer Stufe gestanden, die in Miln am meisten zählte.
»Ich habe unseren kleinen Schatz weinen hören«, begann Margrit. »Ein kräftiges Mädchen.«
»Ich muss ausgehen«, erklärte Elissa. »Bereite mir bitte ein Bad und lass mein blaues Kleid und den Hermelinumhang herauslegen.« Die Frau nickte, und dann beschäftigte sich Elissa wieder mit ihrem Kind.
Nachdem Elissa ihr Bad genommen und sich angekleidet hatte, überließ sie Margrit zögernd die Kleine und unternahm einen Gang in die Stadt, bevor ihr Mann aufwachte. Ragen würde sie wegen ihrer Einmischung tadeln, aber Elissa wusste, dass Arlen an einem Abgrund entlangbalancierte, und er sollte nicht hinabstürzen, nur weil sie untätig geblieben war.
Als sie die Bibliothek betrat, huschten ihre Blicke hin und her; sie hatte Angst, Arlen könnte sie entdecken. Sie fand Mery nirgendwo, doch das wunderte sie nicht. Arlen sprach nur selten über persönliche Angelegenheiten, und auch Mery erwähnte er nicht oft, doch wenn er dann etwas Privates preisgab, hörte Elissa immer sehr aufmerksam zu. Sie wusste, dass es hier einen besonderen Ort gab, den die beiden jungen Leute liebten, und sie konnte sich denken, dass das Mädchen den Wunsch haben würde, sich dorthin zurückzuziehen.
Und tatsächlich traf sie Mery auf dem Dach der Bibliothek an; das Mädchen weinte.
»Mutter Elissa«, hauchte Mery und wischte sich rasch die Tränen fort. »Hast du mich erschreckt!«
»Das wollte ich nicht, meine Liebe«, entschuldigte sich Elissa und ging zu ihr. »Wenn du lieber allein sein möchtest, dann sag es ruhig, aber ich dachte mir, du brauchst vielleicht jemanden, mit dem du reden kannst.«
»Hat Arlen dich geschickt?«, fragte Mery.
»Nein«, erwiderte Elissa. »Aber ich habe gesehen, wie verzweifelt er war, und ich wusste, dass es dich genauso schwer treffen würde.«
»Er war verzweifelt?« Mery zog die Nase hoch.
»Er ist stundenlang im Dunkeln durch die Straßen gewandert«, erzählte Elissa. »Er war krank vor Kummer.«
Mery schüttelte den Kopf. »Trotzdem ist er fest entschlossen, sich umbringen zu lassen«, murmelte sie.
»Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall«, widersprach Elissa. »Es kommt mir vor, als versuche er mit allen Mitteln, sich lebendig zu fühlen.« Mery sah sie neugierig an, und Elissa setzte sich neben das Mädchen.
»Jahrelang«, fuhr sie dann fort, »konnte ich nicht verstehen, warum mein Mann den Drang verspürte, von Ort zu Ort zu wandern, sich gegen Horclinge zu behaupten und sein Leben wegen ein paar Paketen und Briefen zu riskieren. Er hatte genug Geld verdient, um uns für zwei Lebensspannen mit jedem erdenklichen Luxus zu verwöhnen. Wieso machte er immer weiter?
Die Leute beschreiben Kuriere mit Worten wie pflichtbewusst, ehrenvoll und aufopferungsbereit. Sie reden sich ein, diese Männer würden aus edlen Motiven heraus ihre Arbeit tun.«
»Ist es denn nicht so?«, staunte Mery.
»Eine Zeit lang glaubte ich, Ehre, Pflichterfüllung und Opfermut seien tatsächlich die Gründe, die einen Kurier immer wieder hinaus auf die offene Straße treiben, doch mittlerweile sehe ich manches klarer. Es gibt Zeiten im Leben, in denen wir uns so lebendig fühlen, dass uns etwas fehlt, wenn diese Phasen vorübergehen. Dann kommen wir uns geradezu leer vor, irgendwie beraubt. Und wir würden beinahe alles tun, um diese Hochstimmung, diesen Rausch , wieder zu bekommen.«
»Ich bin mir noch nie leer oder beraubt vorgekommen«, erklärte Mery.
»Früher kannte ich diese Gefühle, von denen ich rede, auch nicht«, entgegnete Elissa. »Das änderte sich jedoch, als ich schwanger wurde. Plötzlich war ich verantwortlich für ein junges Leben, das ich in meinem Körper trug. Alles, was ich aß, alles, was ich tat, beeinflusste das ungeborene Wesen. Und ich hatte so lange auf eine Schwangerschaft gewartet,
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