Das Lied der Dunkelheit
dass ich befürchtete, ich könnte das Kind verlieren. Bei Frauen in meinem Alter ist das keine Seltenheit.«
»So alt bist du doch gar nicht«, wandte Mery ein. Elissa lächelte nur.
»Ich konnte spüren, wie Maryas Leben in mir pulsierte«, fuhr Elissa fort, »und zwar in Harmonie mit meinem eigenen. So etwas hatte ich noch nie zuvor gefühlt. Und jetzt, wo das Kind geboren ist, packt mich die Verzweiflung, wenn ich daran denke, dass ich diese Empfindungen vielleicht nie wieder haben werde. Ich klammere mich mit aller Macht an mein Kind, aber die Verbindung, die wir jetzt zueinander haben, lässt sich mit dem Zustand während der Schwangerschaft nicht vergleichen.«
»Aber was hat das mit Arlen zu tun?«, fragte Mery.
»Ich erzähle dir, was meiner Ansicht nach ein Kurier fühlt, wenn er unterwegs ist«, erwiderte Elissa. »Ragen scheint durch diese dauernde Lebensgefahr erst bewusst geworden zu sein, wie kostbar sein Leben ist, und diese Erkenntnis löste den Drang in ihm aus, sich ständig selbst zu beweisen, dass er dem Tod ein Schnippchen schlagen kann.
Bei Arlen ist es etwas anderes. Die Horclinge haben ihm einen schweren Verlust zugefügt, Mery, und er quält sich mit Vorwürfen, weil er diese Tragödie nicht verhindern konnte. Ich glaube, dass er sich tief in seinem Innern sogar selbst hasst. Er
macht die Horclinge dafür verantwortlich, dass er sich so schlecht fühlt, und nur indem er sie bekämpft, kann er seinen Frieden wiederfinden.«
»Ach, Arlen«, flüsterte Mery, und in ihren Augen schimmerten wieder Tränen.
Elissa streichelte ihre Wange. »Aber er liebt dich«, beteuerte sie. »Das höre ich, wenn er über dich spricht. Und ich denke, wenn er mit dir zusammen ist, vergisst er manchmal sogar, sich selbst zu hassen.«
»Wie hast du das nur ertragen, Mutter?«, fragte Mery. »Wie hast du es jahrelang ausgehalten, mit einem Kurier verheiratet zu sein?«
Elissa seufzte. »Weil Ragen sowohl gutherzig als auch stark ist, und man findet selten diese beiden Eigenschaften in einem Mann vereint. Weil ich nie an seiner Liebe zu mir gezweifelt habe und wusste, dass er immer zu mir zurückkommen würde. Doch hauptsächlich, weil die Momente, in denen er bei mir war, sämtliche Zeiten der Trennung aufwogen.«
Sie legte die Arme um Mery und drückte das Mädchen an sich. »Gib ihm das Gefühl, dass es sich für ihn lohnt, nach Hause zu kommen, Mery - er braucht etwas, worauf er sich freuen kann. Und Arlen wird bestimmt erkennen, dass sein Leben doch etwas wert ist.«
»Ich will aber, dass er überhaupt nicht fortgeht«, erwiderte das Mädchen leise.
»Das weiß ich«, räumte Elissa ein. »Ich möchte ihn auch hier behalten. Aber wenn er dann doch aufbricht, liebe ich ihn deshalb nicht weniger.«
Mery seufzte. »So geht es mir auch.«
Als Jaik sich an diesem Morgen auf den Weg zur Mühle machte, wartete Arlen auf ihn. Er führte sein Pferd am Zügel, einen braunen Renner mit schwarzer Mähne, dem er den Namen »Morgenröte« gegeben hatte, und er trug seine Rüstung.
»Was ist los?«, erkundigte sich Jaik. »Bist du unterwegs nach Hardens Hain?«
»Ja, und die Tour geht darüber hinaus«, antwortete Arlen. »Ich reise im Auftrag der Gilde und bringe eine Botschaft nach Lakton.«
»Lakton!?« Jaik schnappte nach Luft. »Bis du da bist, vergehen zwei Wochen!«
»Du könntest mich begleiten«, schlug Arlen vor.
»Was?« Jaik sperrte Mund und Augen auf.
»Als mein Jongleur.«
»Arlen, ich bin noch nicht so weit …«, begann Jaik.
»Cob sagt, der beste Lehrmeister ist die Praxis«, schnitt Arlen ihm das Wort ab. »Komm mit mir, und wir lernen zusammen! Oder willst du ewig in der Mühle schuften?«
Jaik senkte den Blick und starrte unbehaglich auf das Straßenpflaster. »Der Beruf eines Müllers ist nicht der schlechteste«, meinte er, von einem Fuß auf den anderen tretend.
Arlen sah ihn eine Weile an, dann nickte er. »Pass auf dich auf, Jaik«, sagte er und schwang sich in den Sattel.
»Wann kommst du zurück?«, wollte Jaik wissen.
Arlen zuckte die Schultern. »Das weiß ich noch nicht«, erwiderte er, den Blick auf die Stadttore geheftet. »Vielleicht niemals.«
Ein Weilchen später an diesem Morgen marschierten Elissa und Mery zu Ragens Villa, um dort auf Arlen zu warten. »Gib nicht
zu schnell nach«, riet Elissa ihr unterwegs. »Du darfst deinen Einfluss auf ihn nicht gänzlich verlieren. Er soll ruhig um dich kämpfen, sonst merkt er nie, was du ihm bedeutest.«
»Meinst du, dass
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