Das Lied der Dunkelheit
auszuspülen. Ehe er sich schlafen gelegt hatte, hatte er sie vernäht und Umschläge gemacht, doch mit Verletzungen durch einen Horcling konnte man nie vorsichtig genug sein. Als er sich über den Teich beugte und sich das kühle Wasser ins Gesicht spritzte, fiel sein Blick auf seine Tätowierung.
Alle Kuriere hatten Tätowierungen, die ihre Heimatstadt kennzeichneten. Sie waren ein Symbol dafür, wie weit sie gereist waren. Arlen erinnerte sich, wie Ragen ihm seine Tätowierung gezeigt hatte; sie stellte die Stadt in den Bergen dar, das Bild, das die Flaggen von Miln zierte. Nach Beendigung seines ersten Auftrags hatte Arlen eigentlich vorgehabt, sich dieselbe Tätowierung zuzulegen. Er ging zu einem Tätowierer, bereit, sich für alle Ewigkeit als Kurier kennzeichnen zu lassen, doch dann zögerte er. Fort Miln war in vielerlei Hinsicht seine Heimat, aber er stammte nicht von dort.
Tibbets Bach besaß keine Flagge, deshalb entschied sich Arlen für das Wappen des Grafen Tibbet: Üppige Felder, durch die ein Strom floss, der in einem kleinen See mündete. Mit seinen Nadeln prägte der Tätowierer diese Erinnerung an Arlens Heimat für immer in seine Schulter ein.
Für immer. Die Vorstellung spukte in Arlens Kopf herum. Er hatte den Tätowierer aufmerksam bei seiner Arbeit beobachtet. Die Kunst dieses Mannes unterschied sich nicht sehr von der eines Bannzeichners; er musste präzise Linien ziehen, ohne sich ein einziges Mal zu vertun. In Arlens Kräuterbeutel befanden sich Nadeln, und das Kästchen mit den Werkzeugen zum Anfertigen von Siegeln enthielt Tinte.
Arlen entzündete ein kleines Feuer und rief sich jeden Augenblick, den er mit dem Tätowierer verbrachte hatte, ins Gedächtnis zurück. Er hielt die Nadeln kurz in die Flammen, dann schüttete er ein bisschen von der dicken, zähflüssigen Tinte in ein Schälchen. Die Nadeln umwickelte er mit Fäden, um zu verhindern, dass sie zu tief in die Haut eindrangen. Sorgfältig studierte er die Konturen der Siegel auf seiner linken Hand und merkte sich jede Falte und Veränderung, die eintrat, wenn er sie bewegte. Als er sich bereit fühlte, nahm er eine Nadel, tauchte sie in die Tinte und machte sich ans Werk.
Er kam nur sehr langsam voran. Häufig musste er eine Pause einlegen, um Blut und überschüssige Tinte von der Handfläche zu waschen. Aber er hatte Zeit im Überfluss, deshalb ging er äußerst akkurat und mit ruhiger Hand vor. Am Vormittag betrachtete er zufrieden das eintätowierte Zeichen. Er bedeckte die Handfläche mit einer Paste aus Heilkräutern und bandagierte sie. Danach machte er sich daran, die Vorräte der Oase zu vermehren. Den Rest dieses Tages und den ganzen darauffolgenden Tag arbeitete er fleißig, in dem Bewusstsein, dass er so viel Proviant mitnehmen musste, wie er tragen konnte, wenn er sich wieder auf den Weg machte.
Arlen blieb noch eine Woche in der Oase; morgens tätowierte er seine Haut, und an den Nachmittagen sammelte er Lebensmittel. Die Tätowierungen auf den Handflächen heilten schnell ab, doch Arlen ging noch weiter. Er dachte daran, wie er sich die Fingerknöchel aufgescheuert hatte, als er nach dem Sanddämon schlug, und versah die Knöchel der linken Hand mit Tätowierungen. Sobald die Krusten abgefallen waren, nahm er sich die andere Hand vor. Nie wieder sollten seine Schläge wirkungslos von einem Horcling abprallen.
Während er arbeitete, ging er in Gedanken immer wieder seinen Kampf mit dem Sanddämon durch; er vergegenwärtigte sich jede Bewegung der Kreatur, ihre Kraft, ihre Schnelligkeit, die Art ihrer Angriffe und mit welchen Vorzeichen sie sich ankündigten. Seine Erinnerungen schrieb er gewissenhaft auf, studierte sie und überlegte, wie er besser hätte reagieren können. Er durfte sich keine Fehler mehr leisten.
Die Krasianer hatten die brutalen und gleichzeitig präzisen Schläge, Stöße und Tritte des sharusahk zu einer Kunstform vervollkommnet. Er begann, seine Tätowierungen den verschiedenen Handlungsabläufen anzupassen, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen.
Als Arlen schließlich die Oase der Morgendämmerung verließ, folgte er nicht dem markierten Weg, sondern nahm eine Abkürzung über die Dünen, um zu der verlorenen Stadt Anochs Sonne zurückzukehren. Er hatte so viel gedörrtes Obst mitgenommen, wie er schleppen konnte. Die Ruinenstadt besaß einen Brunnen, aber dort gab es nichts Essbares, und er plante, eine Weile dort zu bleiben.
Bereits bei seinem Aufbruch wusste Arlen,
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