Das Lied der Dunkelheit
es, ihm Fangfragen zu stellen und ihn bei einer Übertreibung zu ertappen, aber Rojers Wortgewandtheit waren sie nicht gewachsen, und er überzeugte diese einfachen Leute vom Land, dass seine bizarren Geschichten auf der Wahrheit beruhten.
Ironischerweise blieben die Menschen am skeptischsten, wenn er behauptete, er könne die Horclinge nach seiner Fiedel tanzen lassen. Natürlich hätte er jederzeit den Beweis antreten können, aber Arrick hatte immer gesagt: »Wenn du erst einmal damit angefangen hast, auch nur eine einzige Behauptung zu beweisen, verlangen die Leute von dir, dass du für alles und jedes einen Beweis erbringst.«
Rojer hob den Blick zum Himmel. Ich werde den Horclingen noch früh genug aufspielen, dachte er. Den ganzen Tag lang war es bewölkt gewesen, und die Dämmerung senkte sich rasch herab. In den Städten, deren hohe Mauern dafür sorgten, dass die meisten Menschen nie einen Horcling zu Gesicht bekamen, hielt man es für ein Ammenmärchen, dass Dämonen
auch dann erscheinen konnten, wenn schwarze Wolken den Himmel verhüllten, doch nachdem Rojer zwei Jahre lang in Dörfern gewohnt hatte, die nicht durch Wälle geschützt wurden, wusste er es besser. Die meisten Horclinge würden bis zum Sonnenuntergang warten, ehe sie aus dem Boden stiegen, doch bei einer dichten Wolkendecke gab es immer wieder ein paar ungeduldige Dämonen, die sich in die scheinbare Nacht hinauswagten.
Durchgefroren, nass und nicht in der Stimmung, ein Risiko einzugehen, sah er sich nach einem geeigneten Lagerplatz um. Er konnte von Glück sagen, wenn er es am nächsten Tag bis zum Dorf Waldrand schaffte. Wahrscheinlich musste er sich darauf einrichten, zwei Nächte im Freien zu kampieren. Bei diesem Gedanken drehte sich ihm der Magen um.
Und in Waldrand würde er es auch nicht besser treffen als in Schäfertal. Oder in Kricketlauf. Früher oder später würde er irgendeine Frau schwängern, oder, was noch viel schlimmer wäre, sich verlieben; und ehe er sich versah, würde er nur noch an Festtagen die Fiedel aus dem Kasten holen. Es sei denn, er musste sich mit seiner Musik etwas dazuverdienen, um den Pflug ausbessern zu lassen oder Saatgut kaufen zu können. Wenn es erst dazu kam, wäre er genauso wie jeder andere.
Natürlich stand es ihm frei, nach Hause zu gehen.
Rojer hatte oft daran gedacht, nach Angiers zurückzukehren, aber immer fielen ihm Gründe ein, weshalb er diesen Entschluss noch ein bisschen weiter hinausschieben sollte. Was hatte diese Stadt ihm schließlich zu bieten? Schmale Gassen, vollgestopft mit Menschen und Tieren, ein Boden aus Holzplanken, durchtränkt mit dem Gestank von Abfällen und Dung. Bettler und Diebe, und die ständigen Geldsorgen. Leute, die ihre Gleichgültigkeit anderen gegenüber wie eine Kunst kultivierten.
Normale Menschen, dachte Rojer und seufzte. Die Dörfler hingegen versuchten immer, alles über ihre Nachbarn zu erfahren, und luden bedenkenlos Fremde in ihre Häuser ein. Das war eine löbliche Einstellung, aber im Grunde seines Herzens war Rojer ein Stadtjunge.
In Angiers wäre er wieder auf die Gilde angewiesen. Die Tage eines Jongleurs ohne Lizenz ließen sich an einer Hand abzählen, doch als Gildeangehöriger mit einem guten Ruf konnte man auf sichere Einkünfte hoffen. Seine Erfahrungen, die er auf dem Lande gesammelt hatte, mochten für eine Lizenz ausreichen, vor allem, wenn er ein Gildemitglied als Fürsprecher gewann. Die meisten Gildeleute hatte Arrick zwar verprellt, aber Rojer fand vielleicht jemanden, der Mitleid mit ihm empfand, wenn er von Arricks Schicksal erfuhr.
Er entdeckte einen Baum, der ihm ein wenig Schutz vor dem Regen bot, und nachdem er seinen Zirkel ausgebreitet hatte, fand er unter dem Blätterdach genügend trockene Zweige, um ein kleines Feuer zu entfachen. Er hütete es sorgsam, doch der Wind und die Feuchtigkeit löschten es schon bald aus.
»Ach verdammt, verflucht seien die Dörfer!«, zischte Rojer, als die Dunkelheit ihn umhüllte und nur gelegentlich von einem magischen Blitz erhellt wurde, wenn ein Dämon seine Siegel angriff.
»Verflucht sei alles!«
Angiers hatte sich während seiner Abwesenheit nicht wesentlich verändert. Die Stadt kam ihm nun kleiner vor, aber Rojer hatte eine Zeit lang in weiten, offenen Gegenden gelebt und war seitdem um ein paar Zoll gewachsen. Mit seinen sechzehn Jahren galt er gemeinhin als ein erwachsener Mann. Eine geraume
Weile stand er vor den Wällen, starrte das Tor an und fragte sich, ob er
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