Das Lied der Dunkelheit
bei ihnen aneckte …
Nach einer hektischen Verfolgungsjagd durch das Zimmer war die Frau des Schäfers ihrem Gemahl auf den Rücken gesprungen und hatte ihn so lange abgelenkt, bis Rojer seine Taschen schnappen und zur Tür hinausflitzen konnte. Rojers Taschen waren immer reisefertig gepackt. Wie wichtig das war, hatte Arrick ihm beigebracht.
»Bei der Nacht«, brummte er, als sein Stiefel tief in einer schlammigen Pfütze einsackte. Die Kälte und die Feuchtigkeit drangen durch das weiche Leder, aber noch wagte er es nicht, eine Rast einzulegen und ein Feuer anzuzünden.
Er zog seinen bunten Umhang fester um die Schultern und fragte sich, wie es kam, dass er dauernd vor irgendetwas wegzulaufen schien. Während der letzten beiden Jahre war er beinahe ständig unterwegs gewesen; in den Dörfern Kricketlauf, Waldrand und Schäfertal hatte er jeweils mindestens dreimal gewohnt, trotzdem fühlte er sich immer noch als Außenseiter. Die meisten Dörfler verließen ihr ganzes Leben lang nicht ihren Heimatort, und sie versuchten ständig, Rojer zum Bleiben zu überreden.
Heirate mich. Heirate meine Tochter. Bleib in meinem Gasthof, und wir pinseln deinen Namen über die Tür, um Gäste anzulocken. Halte mich warm, während mein Mann auf dem Feld arbeitet. Hilf uns bei der Ernte und überwintere bei uns.
Sie sagten es in hundert verschiedenen Formulierungen, aber alle meinten dasselbe: »Gib das Umherziehen auf der Straße auf und schlage hier bei uns Wurzeln.«
Jedes Mal, wenn Rojer so etwas hörte, fand er sich auf der Landstraße wieder. Es gefiel ihm, beliebt zu sein, aber in welcher Rolle? Als Ehemann? Als Vater? Als Bauernknecht? Rojer war ein Jongleur, und er konnte sich nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu sein. Er wusste, wenn er erst einmal damit anfing, bei der Ernte zu helfen oder nach einem verirrten Schaf
zu suchen, würde er einen Weg einschlagen, der schnell dazu führen konnte, dass er seinen Beruf aufgab.
Flüchtig berührte er den Talisman mit dem goldblonden Haarschopf, den er in seiner Geheimtasche verwahrte, und spürte, wie Arricks Geist über ihn wachte. Er war fest davon überzeugt, dass Arrick seine Enttäuschung an ihm auslassen würde, wenn er seine bunten Sachen an den Nagel hängte. Arrick war als Jongleur gestorben, und auch Rojer wollte sein Leben lang Jongleur bleiben.
Arrick hatte Recht gehabt, als er prophezeite, die Tour über die Dörfer würde Rojers Talente fördern. Die beiden letzten Jahre, in denen er eine Vorstellung nach der anderen gegeben hatte, hatten mehr aus ihm gemacht als nur einen virtuosen Fiedler und Akrobaten. Ohne Arricks Führung war Rojer gezwungen gewesen, sein Repertoire zu erweitern und an den Aufgaben zu wachsen. Er musste sich etwas einfallen lassen, um als Alleinunterhalter zu glänzen. Unentwegt übte er irgendwelche neuen Zaubertricks oder Musikstücke ein, doch er hatte sich nicht nur als Magier und Musikant einen Namen gemacht, sondern auch als Geschichtenerzähler.
Jeder Dorfbewohner liebte eine gute Geschichte, besonders wenn darin weit entfernte Orte vorkamen. Rojer griff das auf und erzählte von Orten, die er gesehen, und von Orten, die er nicht gesehen hatte; er beschrieb Städte, die gleich hinter dem nächsten Hügel lagen und solche, die nur in seiner Fantasie existierten. Jedes Mal schmückte er die Geschichten ein bisschen mehr aus, und wenn er die Abenteuer seiner Charaktere schilderte, fingen diese fiktiven Personen an, in den Köpfen der Menschen zu leben. Zum Beispiel Jak Schuppenzunge, der mit Horclingen sprechen konnte und die dummen Viecher dauernd mit falschen Versprechungen überlistete. Oder Marko Herumtreiber, der die Milneser Berge überquerte und dahinter ein reiches
Land entdeckte, in dem die Dämonen wie Götter verehrt wurden. Und dann gab es natürlich noch den Tätowierten Mann.
In jedem Frühling bereisten die Jongleure des Herzogs die Dörfer und verkündeten neue Erlasse; der letzte Jongleur, der vorbeigekommen war, hatte von einem barbarischen Mann erzählt, der durch die Wildnis strolchte, Dämonen tötete und ihr Fleisch aß. Er behauptete, er wüsste es von einem Tätowierer, der diesem Mann Siegel auf den Rücken tätowiert hatte, und hoch und heilig schwor, es sei die Wahrheit. Andere bestätigten diese Geschichte. Die Zuhörer hatten wie gebannt gelauscht, und als man Rojer an einem anderen Abend bat, die Geschichte zu wiederholen, tat er es und spann sie mit eigenen Ideen weiter aus.
Die Leute liebten
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