Das Lied der Dunkelheit
abgefasst war, denn Gared beherrschte das Alphabet nicht. Und wenn Elona sich noch so sehr anstrengte, den Wortlaut in einer Weise abzufassen, als sei er ihr diktiert worden, hörte Leesha immer nur das Ansinnen ihrer Mutter heraus. Sie war sich sicher, dass mindestens die Hälfte des Textes allein von ihrer Mutter stammte, und höchstwahrscheinlich auch noch
der Rest. Der Inhalt dieser Briefe änderte sich nie. Gared ging es gut. Gared vermisste sie. Gared wartete auf sie. Gared liebte sie.
»Meine Mutter muss mich ja für sehr dumm halten«, bemerkte Leesha trocken, während sie weiterlas, »wenn sie glaubt, ich würde Gared zutrauen, er hätte jemals ein Gedicht verfasst, obendrein noch eines, das sich nicht reimt.«
Jizell lachte, doch sie verstummte abrupt, als sie sah, dass Leesha ernst blieb.
»Angenommen, sie hat Recht«, sinnierte Leesha. »So merkwürdig die Vorstellung ist, Elona könnte in irgendeiner Hinsicht Recht haben, so ändert das nichts an der Tatsache, dass ich eines Tages gern Kinder hätte. Und man braucht keine Kräutersammlerin zu sein, um zu wissen, dass meine gebärfähige Zeit langsam ausläuft. Du sagst ja selbst, ich hätte meine besten Jahre vergeudet.«
»So habe ich mich ganz bestimmt nicht ausgedrückt«, widersprach Jizell.
»Aber es stimmt ja«, fuhr Leesha traurig fort. »Ich habe mir nie die Mühe gegeben, nach Männern Ausschau zu halten; sie kamen immer von selbst zu mir, ob ich sie nun wollte oder nicht. Ich dachte nur, eines Tages würde mich schon einer finden, der sich in mein Leben einfügt, anstatt von mir zu verlangen, dass ich mich ihm anpasse.«
»Diesen Traum hatten wir alle einmal, meine Liebe«, gab Jizell zu, »und es ist schön, sich diese Illusion auszumalen, wenn man nichts Besseres zu tun hat. Aber man kann nicht hoffen, dass solche Wünsche eines Tages Wirklichkeit werden.«
Leesha umklammerte den Brief in ihrer Hand und zerknitterte ihn ein wenig.
»Denkst du vielleicht daran, zurückzugehen und diesen Gared zu heiraten?«, fragte Jizell.
»Beim Schöpfer, nein!«, schrie Leesha auf. »Das kommt gar nicht in Frage!«
Jizell schniefte. »Schön. Du hast es mir erspart, dir einen Schlag auf den Kopf geben zu müssen.«
»So sehr ich mich auch nach einem Kind sehne«, gab Leesha zu, »lieber sterbe ich als alte Jungfer, bevor ich mich von Gared schwängern lasse. Mein Problem ist nur, dass er jeden Mann in meinem Dorf angreifen würde, der versucht, mir den Hof zu machen.«
»Das Problem ist sehr leicht zu lösen«, meinte Jizell. »Krieg deine Kinder hier.«
»Was?«, platzte Leesha heraus.
»Das Tal der Holzfäller ist bei Vika in guten Händen«, erläuterte Jizell. »Ich habe das Mädchen selbst ausgebildet, und ihr Herz ist jetzt ohnehin dort.« Sie beugte sich vor und legte ihre fleischige Hand auf die von Leesha. »Bleib hier«, schlug sie vor. »Mach Angiers zu deiner Heimat und übernimm das Hospital, wenn ich mich zur Ruhe setze.«
Leeshas Augen weiteten sich. Sie öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus.
»In all diesen Jahren habe ich genauso viel von dir gelernt wie du von mir«, fuhr Jizell fort. »Es gibt keine andere, der ich mein Hospital anvertrauen würde, nicht einmal Vika, selbst wenn sie morgen zurückkäme.«
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, stammelte Leesha endlich.
»Dann sag erst mal gar nichts. Es besteht kein Grund, die Dinge zu überstürzen«, erwiderte Jizell und tätschelte Leeshas Hand. »Ich denke, so schnell werde ich mich noch nicht zur Ruhe setzen. Lass dir das Angebot einfach nur durch den Kopf gehen.«
Leesha nickte. Jizell breitete die Arme aus, sie warf sich an ihre Brust und drückte sich fest an die ältere Frau. Als sie die
Umarmung lösten, ließ ein Schrei draußen sie zusammenzucken.
»Hilfe! Hilfe!«, brüllte jemand. Beide sahen rasch zum Fenster. Draußen war es inzwischen stockfinster.
Nachts in Angiers die Fensterläden zu öffnen, war ein Verbrechen, das mit Auspeitschen bestraft werden konnte; aber Leesha und Jizell verschwendeten keinen Gedanken daran, als sie den schweren Riegel zurückwuchteten und drei Stadtwachen sahen, die den Plankenweg entlangrannten. Zwei von ihnen schleppten jeweils einen anderen Mann mit sich.
»Ay, das Hospital!«, rief der Wächter, der vorneweg lief und sah, dass Fensterläden geöffnet wurden, hinter denen ein hell erleuchteter Raum lag. »Macht die Tür auf! Wir brauchen Obdach! Wir brauchen Obdach! Obdach und eine Heilerin!«
Zusammen
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