Das Lied der Dunkelheit
hetzten Leesha und Jizell zur Treppe, und in ihrer Hast, zur Tür zu gelangen, wären sie beinahe die Stufen hinuntergefallen. Es war Winter, und obwohl die Bannzeichner der Stadt fleißig daran arbeiteten, das Netz von Schnee, Eis und welkem Laub freizuhalten, fanden in jeder Nacht unweigerlich ein paar Winddämonen den Weg in die Stadt, wo sie Jagd auf obdachlose Bettler machten und dem gelegentlichen Dummkopf auflauerten, der es wagte, die Sperrstunde und das Gesetz zu umgehen. Ein Winddämon konnte so lautlos in die Tiefe stürzen wie ein herabfallender Stein, um dann mit einem jähen Knall die krallenbewehrten Schwingen zu spreizen und seinem Opfer den Bauch aufzuschlitzen, ehe er den Leichnam mit den hinteren Krallen packte und sich mit ihm wieder in die Luft schwang.
Sie erreichten den Fuß der Treppe, rissen die Tür auf und sahen zu, wie sich die Männer näherten. Türsturz und Rahmen waren durch Siegel geschützt; trotz der offenen Tür befanden sie und ihre Patienten sich in Sicherheit.
»Was ist passiert?«, kreischte Kadie und steckte den Kopf über die Brüstung oben an der Treppe. Hinter ihr strömten die anderen Schülerinnen aus ihrem Zimmer.
»Zieht eure Schürzen wieder an und kommt hier runter!«, befahl Leesha, und die jüngeren Mädchen beeilten sich, ihr zu gehorchen.
Die Männer waren immer noch ein gutes Stück entfernt, doch sie rannten, so schnell sie konnten. Leesha krampfte sich der Magen zusammen, als sie oben am Himmel ein Kreischen hörte. Winddämonen kreisten über der Stadt, angelockt vom Licht und dem Trubel.
Aber die Wächter kamen rasch näher, und Leesha wagte zu hoffen, dass sie es unversehrt bis zum Hospital schaffen würden, bis einer der Männer auf einem Eisflecken ausrutschte und stürzte. Er stieß einen Schrei aus, und der Mann, den er trug, fiel auf den Plankenweg.
Der andere Wächter, der über seinen Schultern einen Menschen mit sich schleppte, rief etwas, senkte den Kopf und legte an Tempo zu. Der Mann, der von keiner Last behindert wurde und die kleine Gruppe anführte, lief zurück zu seinem gestürzten Kameraden.
Ein jähes Klatschen von ledrigen Schwingen war die einzige Warnung, bevor der Kopf des unglücklichen Wächters von seinem Körper getrennt wurde und über den Plankenweg rollte. Kadie kreischte wie eine Wahnsinnige. Noch bevor das Blut aus der Wunde sprudeln konnte, stieß der Winddämon einen gellenden Schrei aus und sauste mit seiner Beute in den nächtlichen Himmel.
Der beladene Wächter passierte die Siegel, und beide Männer waren in Sicherheit. Leesha schaute wieder zu dem am Boden liegenden Mann hin, der sich abmühte, auf die Beine zu kommen, und setzte eine entschlossene Miene auf.
»Leesha, nein!«, schrie Jizell und wollte sie festhalten. Aber Leesha wich ihr behände aus und stürmte nach draußen auf den Plankenweg.
Sie rannte in einem scharfen Zickzack, während über ihr die Schreie der Winddämonen durch die kalte Luft hallten. Ein Horcling griff sie im Sturzflug an und verfehlte sie nur knapp. Die Bestie knallte schwer auf die Holzplanken, kam jedoch schnell wieder hoch, denn die dicke, harte Haut hatte den Aufprall gedämpft. Leesha wirbelte herum und schleuderte dem Dämon eine Handvoll von Brunas Blendpulver in die Augen. Die Kreatur brüllte vor Schmerz, und Leesha hetzte weiter.
»Rette ihn, nicht mich!«, rief ihr der Wächter zu, als sie sich ihm näherte, und zeigte auf die Gestalt, die reglos auf dem Plankenweg lag. Der Knöchel des Wächters war in einem unnatürlichen Winkel verdreht und offensichtlich gebrochen. Leesha warf einen Blick auf den anderen Mann, der am Boden lag und sich nicht rührte. Beide Männer konnte sie nicht schleppen.
»Nicht mich!«, schrie der Wächter wieder, als sie auf ihn zusteuerte.
Leesha schüttelte den Kopf. »Dich kann ich eher in Sicherheit bringen«, erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie packte den Mann unter den Achseln und hievte ihn hoch.
»Duck dich«, keuchte der Wächter. »Winddämonen stürzen sich nicht gern auf etwas, das sich dicht über dem Boden befindet.«
Sie beugte sich möglichst weit vornüber und wankte unter dem Gewicht des stämmigen Mannes vorwärts. Sie wusste, dass sie es bei diesem langsamen Tempo niemals schaffen würden, ob sie sich nun bückten oder nicht.
»Jetzt!«, brüllte Jizell. Als Leesha hochblickte, sah sie, wie Kadie und die anderen Schülerinnen aus dem Hospital rannten und sich weiße Laken über die Köpfe
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