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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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als hätte sein Vater ihm einen Schlag in die Magengrube verpasst.
    »Renna?«, fragte er, den Ahnungslosen mimend. »Ach, eigentlich ist sie ganz nett. Warum willst du wissen, wie ich sie finde?«
    »Nun, ich habe mit Harl gesprochen«, fuhr Jeph fort. »Wenn wir nach Hause zurückfahren, nehmen wir sie mit. Sie wird demnächst bei uns wohnen.«
    »Und wozu soll das gut sein?«
    »Sie wird deine Mam pflegen, auf dem Hof helfen … und dann gibt es noch andere Gründe.«
    »Was für Gründe?«, forschte Arlen nach.
    »Harl und ich möchten sehen, ob ihr zwei miteinander auskommt«, erklärte Jeph.
    »Was ist, wenn wir uns nicht vertragen?«, fragte Arlen weiter. »Was ist, wenn ich es nicht mag, dass so ein Mädchen den ganzen Tag hinter mir her rennt und mich fragt, ob ich mit ihr Bussi-Bussi spielen will?«
    »Die Zeit wird kommen«, entgegnete Jeph, »da wirst du es nicht abwarten können, Bussi-Bussi zu spielen.«
    »Dann nimm sie von mir aus mit.« Arlen zuckte mit den Schultern und gab vor, nicht zu wissen, was sein Vater meinte. »Warum liegt Harl denn so viel daran, sie los zu werden?«
    »Du hast doch gesehen, in welchem Zustand sich sein Hof befindet; von den Erträgen kann die Familie sich kaum ernähren«, erklärte Jeph. »Harl liebt seine Töchter über alles, und er wünscht sich für sie nur das Beste. Und das Beste ist eben, sie so früh wie möglich zu verheiraten. Dann bekommt er Söhne, die ihm helfen, und ehe er stirbt, sieht er noch seine Enkelkinder.
Ilain ist schon fast aus dem heiratsfähigen Alter heraus. Im Herbst kommt Lucik aus Torfhügel, um in Harls Landwirtschaft zu arbeiten. Alle hoffen, dass er und Beni gut miteinander auskommen werden.«
    »Ich nehme an, Lucik hatte auch keine Wahl«, grummelte Arlen.
    »Er freut sich über das Angebot, und er weiß sein Glück zu schätzen!«, schnappte Jeph, dem die Geduld ausging. »Du wirst noch eine Menge darüber lernen müssen, wie es im Leben zugeht, Arlen. Mach dich auf ein paar harte Lektionen gefasst. Hier in unserer Gegend gibt es viel mehr Jungen als Mädchen, und wir können unser Leben nicht einfach so verplempern. Jedes Jahr wird die Anzahl der Dorfbewohner geringer. Die Leute sterben an Altersschwäche, an Krankheiten oder werden von Dämonen getötet. Wenn nicht genug Kinder geboren werden, stirbt Tibbets Bach aus, wie es mit Hunderten anderer Ortschaften bereits geschehen ist. Das dürfen wir nicht zulassen!«
    Arlen, der merkte, wie sein normalerweise ruhiger Vater vor Wut schäumte, war klug genug, keine Widerworte zu geben.
    Eine Stunde später fing Silvy an zu schreien. Als sie sich erschrocken nach ihr umdrehten, versuchte sie, im Karren aufzustehen. Ihre Hände krallten sich in ihre Brust, und sie rang geräuschvoll nach Luft. Es klang entsetzlich. Arlen sprang auf die Ladefläche, und sie klammerte sich mit überraschend kräftigen Fingern an ihn. Dann hustete sie und spuckte dicken Schleim auf sein Hemd. Ihre aus den Höhlen quellenden, blutunterlaufenen Augen starrten ihn mit irrem Blick an, doch sie schien ihn nicht zu erkennen. Arlen brüllte vor Verzweiflung, als sie wild um sich schlug, und er bemühte sich, sie festzuhalten.
    Jeph hielt den Karren an, und gemeinsam zwangen sie sie, sich wieder hinzulegen. Sie gebärdete sich wie eine Rasende
und stieß dabei unentwegt heisere Schreie aus. Zum Schluss bäumte sie sich noch einmal auf, zuckte ein letztes Mal, wie Cholie, und blieb dann reglos liegen.
    Jeph sah seine Frau an, warf den Kopf nach hinten, und seiner Kehle entrang sich ein fürchterlicher Schrei. In seinem Versuch, die Tränen zurückzuhalten, biss Arlen sich beinahe die Lippe blutig, aber am Ende musste auch er kapitulieren, und Vater und Sohn weinten gemeinsam über der Leiche der Frau.
    Als ihre Schluchzer abebbten, blickte Arlen mit stumpfen Augen in die Runde. Er blinzelte und versuchte, scharf zu sehen, doch die Welt erschien ihm verschwommen, als sei sie nicht real.
    »Was machen wir jetzt?«, krächzte er.
    »Wir kehren um«, antwortete sein Vater, und die Worte schmerzten Arlen wie Messerstiche. »Wir bringen sie heim und verbrennen sie. Wir müssen lernen, ohne sie auszukommen. Der Hof muss bewirtschaftet und das Vieh versorgt werden. Selbst wenn Renna und Norine uns helfen, stehen uns schwere Zeiten bevor.«
    »Renna?«, fragte Arlen ungläubig. »Du willst sie immer noch mitnehmen? Auch jetzt noch?«
    »Das Leben geht weiter, Arlen«, mahnte sein Vater. »Du bist fast schon ein Mann, und ein

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