Das Lied der Dunkelheit
Mann braucht eine Ehefrau.«
»Hast du für uns beide eine besorgt?«, platzte Arlen heraus.
»Was?«, fragte Jeph verdutzt.
»Ich habe dich und Ilain gestern Nacht belauscht!«, kreischte Arlen. »Du hast dir deine nächste Frau schon ausgesucht! Du trauerst nicht einmal um Mam. Warum solltest du auch? Um dein Dingelchen wird sich sofort eine andere kümmern! Wenigstens so lange, bis sie auch von den Dämonen getötet wird, weil du zu feige bist, um ihr in der Not zu helfen!«
Arlens Vater schlug zu; er verpasste seinem Sohn eine kräftige Ohrfeige, die in der Morgenluft widerhallte. Doch sein Jähzorn verrauchte sogleich, und entschuldigend streckte er eine Hand nach Arlen aus.
»Es tut mir leid, mein Junge …«, würgte er hervor, doch Arlen prallte zurück und sprang vom Wagen.
»Arlen!«, schrie Jeph, aber der hörte nicht auf ihn, sondern rannte, so schnell er konnte, auf den Wald zu, der sich an einer Seite der Straße entlangzog.
3
Eine Nacht allein
319 NR
I n tollkühnem Tempo hetzte Arlen durch die Wälder, ohne auf die Richtung zu achten. Er wollte sichergehen, dass sein Vater ihn nicht aufspüren konnte, doch als Jephs Rufe verklangen, merkte er, dass sein Vater ihm gar nicht gefolgt war.
Warum sollte er sich die Mühe machen?, dachte er. Er weiß ja, dass ich vor Anbruch der Nacht zu ihm zurückkommen muss. Wohin sollte ich sonst gehen?
Irgendwohin. Ich kann überall hingehen, wenn ich es will. Der Gedanke schoss ihm wie von selbst durch den Kopf; und in seinem tiefsten Herzen wusste er, dass er seine Entscheidung getroffen hatte.
Er konnte nicht auf den Hof seines Vaters zurückkehren und so tun, als sei alles in Ordnung. Er wollte nicht mitansehen, wie Ilain sich in das Bett seiner Mutter legte. Selbst die hübsche Renna mit ihren weichen Küssen würde ihn nur ständig daran erinnern, was er verloren hatte, und warum seine Mutter sterben musste.
Doch in welche Richtung sollte er sich wenden? In einer Hinsicht hatte sein Vater Recht; er konnte nicht immer und ewig weiterlaufen. Bevor es dunkel wurde, musste er einen Unterschlupf
gefunden haben, andernfalls wäre die kommende Nacht seine letzte.
Zu Fuß nach Tibbets Bach zu marschieren kam auf gar keinen Fall in Frage. Egal, wer ihm Obdach bot, am nächsten Tag würde man ihn an den Ohren nach Hause schleifen, und dann konnte er sich auf etwas gefasst machen.
Der Weiler Sonnige Weide fiel ihm ein. Niemand aus Tibbets Bach ging dorthin, es sei denn, der alte Vielfraß bezahlte jemanden dafür, dass er irgendeine Besorgung erledigte. Und natürlich steuerten die Kuriere diesen Ort an.
Coline hatte behauptet, Ragen sei unterwegs nach Sonnige Weide, ehe er sich auf den Rückweg zu den Freien Städten machte. Arlen mochte Ragen, er war der einzige Erwachsene, den er kannte, der ihn nicht von oben herab behandelte. Der Kurier und Keerin hatten über einen Tag Vorsprung, und obendrein waren sie beritten; doch wenn er sich beeilte, holte er sie vielleicht noch rechtzeitig ein und konnte sie bitten, ihn zu den Freien Städten mitzunehmen.
Colines krude Landkarte hing immer noch um seinen Hals. Sie zeigte die Straße nach Sonnige Weide und auch die Bauernhöfe, die am Weg lagen. Obwohl Arlen sich mitten in den Wäldern befand, glaubte er ziemlich genau zu wissen, wo Norden war.
Um die Mittagszeit fand er die Straße, oder besser gesagt, er stieß rein zufällig darauf. Der Weg führte schnurgerade durch die Wälder. Wegen der vielen Bäume hatte er schließlich doch die Orientierung verloren.
Ein paar Stunden lang marschierte er zügig drauflos, aber er entdeckte nirgendwo ein Gehöft, noch sah er ein Haus, das die Heimstätte der alten Kräutersammlerin hätte sein können. Als er zur Sonne hinaufspähte, wuchs seine Besorgnis. Wenn er sich in nördlicher Richtung bewegte, hätte die Sonne zu seiner
Linken stehen müssen, doch sie stand genau vor ihm. Er lief immer gerade darauf zu.
Nach einer Weile blieb er stehen und studierte wieder die Karte; seine Befürchtungen bestätigten sich. Er befand sich nicht auf der Route, die nach Sonnige Weide führte, sondern er hatte den Weg eingeschlagen, auf dem man die Freien Städte erreichte. Es kam sogar noch schlimmer; direkt nach der Gabelung endete die Straße am Rand der Karte, lediglich die Abzweigung war noch eingetragen.
Die Vorstellung umzukehren flößte ihm Angst ein; vor allem, weil er nicht wusste, ob er rechtzeitig Obdach finden würde. Er drehte sich um und schickte sich
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