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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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folgte beharrlich den Wagenspuren, egal, wohin sie führten.
    Wenn er schon sterben musste, dann lieber in der Nähe der Freien Städte als in der Nachbarschaft des Gefängnisses, das er hinter sich gelassen hatte.

4
    Leesha
    319 NR
     
     
     
    L eesha weinte die ganze Nacht.
    Das war an sich nichts Ungewöhnliches, doch dieses Mal lag es nicht an ihrer Mutter, dass sie in Tränen aufgelöst war. Es waren die Schreie, die sie an den Rand der Verzweiflung trieben. Irgendwo hatten die Siegel versagt; es ließ sich unmöglich feststellen, wen es getroffen hatte, aber die Angst- und Schmerzensschreie hallten durch die Dunkelheit, und Rauchsäulen quollen in den Himmel. Das ganze Dorf glühte in einem dunstigen, orangefarbenen Licht, als der Qualm das Feuer der Horclinge reflektierte.
    Die Leute, die im Tal der Holzfäller wohnten, konnten noch nicht nach Überlebenden suchen. Sie wagten es nicht einmal, die Brände zu löschen. Sie konnten gar nichts tun außer zu beten und den Schöpfer anzuflehen, der Wind möge keine Funkenschauer herüberwehen. Nicht ohne Grund standen die Häuser im Tal der Holzfäller weit auseinander. Man wollte verhindern, dass Flammen übersprangen, doch eine kräftige Brise konnte glühende Trümmerstücke ziemlich weit tragen.
    Selbst wenn man den Brandherd eindämmen konnte, war es leicht möglich, dass Asche und Rauch irgendwelche Siegel verschmutzten
und den Horclingen den Zugang gewährten, den diese so emsig suchten.
    An den Schutzsymbolen um Leeshas Haus machte sich jedoch kein Dämon zu schaffen. Das war ein schlechtes Zeichen, denn es deutete darauf hin, dass die Ungeheuer anderenorts Beute gefunden hatten.
    In ihrer Hilflosigkeit und Angst tat Leesha das Einzige, was ihr übrig blieb. Sie weinte. Sie weinte um die Toten, sie weinte um die Verwundeten, und sie weinte um sich selbst. Wer wie sie in einem Dorf mit nicht einmal vierhundert Einwohnern lebte, der wurde vom Tod eines jeden Einzelnen, den die Horclinge erwischt hatten, betroffen.
    Leesha zählte noch keine dreizehn Sommer, doch mit ihren langen, schwarzen Locken und den hellblauen, strahlenden Augen galt sie bereits als ein ungewöhnlich schönes Mädchen. Da sie noch nicht zur Frau erblüht war, durfte sie auch noch nicht verheiratet werden, aber sie war bereits Gared Holzfäller versprochen, dem ansehnlichsten Jungen im Ort. Gared war zwei Sommer älter als sie, groß gewachsen und mit strammen Muskeln ausgestattet. Die anderen Mädchen kicherten, wenn er an ihnen vorbeimarschierte, aber er gehörte Leesha, und das wussten alle. Mit ihr würde er kräftige Kinder zeugen.
    Falls er diese Nacht überlebte.
    Die Tür zu ihrer Kammer öffnete sich. Ihre Mutter hielt es nicht für nötig, anzuklopfen.
    Vom Gesicht und der Erscheinung her glich Elona ihrer Tochter. Mit dreißig war sie immer noch eine Schönheit, und ihr langes, volles, schwarzes Haar fiel über ihre geraden, stolzen Schultern. Um ihre üppige, frauliche Figur wurde sie beneidet, und ihr stattlicher Busen war das Einzige, was Leesha von ihr zu erben hoffte. Ihre eigenen Brüste fingen gerade erst an sich zu entwickeln, und es würde noch eine geraume Weile
dauern, bis sich ihre Oberweite mit der ihrer Mutter messen konnte.
    »Hör endlich auf zu flennen, du nichtsnutziges Gör«, schnauzte Elona und warf Leesha einen Lumpen zu, mit dem sie sich die Tränen trocknen sollte. »Wenn du einsam im stillen Kämmerlein vor dich hin heulst, bringt dir das gar nichts ein. Vor einem Mann kannst du ruhig plärren, um deinen Willen bei ihm durchzusetzen, aber wenn du bloß ins Kopfkissen schluchzt, erweckst du die Toten auch nicht wieder zum Leben.« Sie drehte sich um, zog die Tür hinter sich ins Schloss und ließ Leesha allein in dem bösartigen orangeroten Licht zurück, das flackernd durch die Ritzen der Fensterläden drang.
    Hast du denn gar keine Gefühle, Mutter?, fragte Leesha sich vielleicht zum tausendsten Mal.
    Natürlich hatte Elona Recht, wenn sie meinte, dass Tränen die Toten nicht wiederbelebten, aber es stimmte nicht, dass Jammern vollkommen nutzlos war. Leesha hatte sich immer in Tränenausbrüche geflüchtet, wenn sie glaubte, ihr Los nicht länger ertragen zu können. Andere Mädchen glaubten vielleicht, Leesha führe ein gutes Leben, aber sie hatten ja auch noch nie erlebt, wie Elona mit ihrem einzigen Kind umsprang, wenn sie mit ihr allein war. Jeder wusste, dass Elona sich Söhne gewünscht hatte, und ihre ganze Enttäuschung und Verbitterung

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