Das Lied der Dunkelheit
darüber, bloß eine Tochter zur Welt gebracht zu haben, ließ sie gnadenlos an Leesha und deren Vater aus. Sie verachtete die beiden, weil sie ihr nicht den Gefallen getan hatten, ihren Wunsch zu erfüllen.
Trotzdem fing das Mädchen nun an, sich mit dem Lappen energisch die Augen trocken zu reiben. Sie konnte es nicht abwarten, endlich ihre Reife zu erlangen und von Gared mitgenommen zu werden. Als Hochzeitsgabe würden die Dörfler ihnen ein Haus bauen. Nach der feierlichen Zeremonie würde
Gared sie über die mit Siegeln versehene Schwelle tragen und sie zur Frau machen. Nach einer bestimmten Zeit hätte sie dann ihre eigenen Kinder, und sie würde sie niemals so schlecht behandeln, wie ihre eigene Mutter es mit ihr tat.
Leesha war angezogen, als ihre Mutter mit der Faust gegen die Tür hämmerte. Sie hatte die ganze Nacht lang kein Auge zugekriegt.
»Wenn die Glocke die Morgendämmerung einläutet, musst du draußen vor dem Haus sein!«, befahl Elona. »Und ich will nichts davon hören, dass du müde bist! Keiner soll uns nachsagen, dass wir uns vor der Arbeit drücken! Jeder muss sehen, dass wir mit anpacken, wenn Not am Mann ist.«
Leesha kannte ihre Mutter gut genug um zu wissen, dass es ihr genügte, gesehen zu werden. Den äußeren Schein zu wahren war alles, was Elona anstrebte. Sie war von Natur aus nicht hilfsbereit, und der einzige Mensch, dessen Wohlergehen ihr am Herzen lag, war sie selbst.
Leeshas Vater, Erny, wartete bereits an der Tür, verfolgt von Elonas strengem Blick. Er war ein ziemlich schmächtiger Mann, den man nicht mal als »drahtig« bezeichnen konnte, denn das hätte eine Stärke angedeutet, die er nicht besaß. Um seine Willenskraft war es auch nicht besser bestellt, man kannte ihn nur als einen stillen, ziemlich schüchternen Zeitgenossen, der niemals die Stimme erhob. Erny war ein Dutzend Jahre älter als Elona, hatte eine Stirnglatze, umgeben von schütterem, braunem Haar, und trug Augengläser in einem Drahtgestell, die er vor Jahren einem Kurier abgekauft hatte; im Ort war er der Einzige, der eine solche Sehhilfe besaß.
Kurzum, Erny war kein Mann, der Elonas Vorstellung von einem gestandenen Kerl entsprach, aber das feine Papier, das er herstellte, fand in den Freien Städten reißenden Absatz, und gegen das Geld, das er mit dem Handel verdiente, hatte sie nichts einzuwenden.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter wollte Leesha ihren Nachbarn wirklich helfen. Sowie die Horclinge verschwanden, noch ehe die Glocke ertönte, flitzte sie aus dem Haus und rannte zu den brennenden Gebäuden.
»Leesha! Bleib hier!«, rief Elona ihr nach, aber Leesha hörte nicht auf sie. Der dichte, ölige Qualm erschwerte ihr das Atmen, aber sie hielt sich die Schürze vor den Mund und lief, so schnell sie konnte.
Als sie die Brandstelle erreichte, hatten sich bereits mehrere Leute dort versammelt. Drei Häuser waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt, zwei standen noch lichterloh in Flammen und das Feuer drohte auf die benachbarten Gebäude überzugreifen. Leesha keuchte vor Schreck, als sie sah, dass eines davon Gareds Elternhaus war.
Smitt, der Besitzer des Gasthofes und der Gemischtwarenhandlung, war auch zur Stelle und bellte Anweisungen. So lange Leesha zurückdenken konnte, hatte Smitt als ihr Dorfsprecher fungiert. Dabei geizte er eher mit Befehlen, im Gegenteil, er zog es vor, die Leute sich selbst zu überlassen. Er fand, jeder müsse imstande sein, seine Probleme allein zu lösen. Doch wenn es sein musste, übernahm er wie selbstverständlich das Kommando und blieb stets Herr der Lage.
»… können das Wasser nicht schnell genug aus dem Brunnen hochkurbeln«, erklärte Smitt gerade, als Leesha sich der Gruppe näherte. »Wir müssen eine Eimerkette zum Fluss bilden und die anderen Häuser mit Wasser begießen, sonst bleibt bis zum Abend vom ganzen Dorf nur noch Asche übrig!«
In diesem Moment kamen Gared und Steave angerannt, abgehetzt und von Ruß geschwärzt, aber ansonsten unversehrt. Gared, knapp fünfzehn Jahre alt, war größer und kräftiger als die meisten erwachsenen Männer im Dorf. Steave, sein Vater, war ein Hüne, der alle anderen überragte. Bei ihrem Anblick fiel Leesha ein Stein vom Herzen.
Doch ehe sie zu Gared laufen konnte, deutete Smitt auf ihn. »Gared, zieh den Eimerkarren zum Fluss!« Dann wanderte sein Blick über die versammelten Leute. »Leesha«, bestimmte er, »du folgst ihm und fängst schon mal an, die Eimer mit Wasser zu füllen!«
Leesha preschte
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