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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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los, so schnell sie ihre Beine trugen, doch obwohl Gared den schweren Karren zog, erreichte er noch vor ihr den kleinen Bach, der etliche Meilen weiter nördlich in den Fluss Angiers mündete. In dem Moment, als Gared stehen blieb, fiel sie ihm in die Arme. Sie hatte geglaubt, ihn unverletzt wiederzusehen, würde die entsetzlichen Bilder in ihrem Kopf ausmerzen, stattdessen verstärkten sie sich nur noch und schürten ihre Panik. Sie wusste nicht, was aus ihr werden sollte, wenn sie Gared eines Tages verlöre. Eine Zukunft ohne ihn konnte sie sich nicht vorstellen.
    »Ich hatte solche Angst, du könntest tot sein«, stöhnte sie, während sie schluchzend ihr Gesicht an seiner Brust barg.
    »Mir ist nichts passiert«, flüsterte er und zog sie fest an sich. »Mir ist nichts passiert.«
    Eilig entluden sie dann den Karren und tauchten die Eimer in den Bach, damit die ersten Dörfler, die am Ufer eintrafen, unverzüglich eine Kette bilden konnten. Bald stellten sich mehr als hundert Menschen in einer ordentlichen Linie auf, die sich vom Bach bis zu den brennenden Häusern hinzog, reichten emsig gefüllte Eimer weiter und nahmen die leeren zurück. Gared musste mit dem Karren wieder zu den Brandherden
eilen, weil man seine starken Arme brauchte, um das Löschwasser in die Flammen zu kippen.
    Nicht lange, und der Karren kehrte zurück, dieses Mal gezogen von Michel dem Fürsorger und beladen mit Verwundeten. Bei diesem Bild empfand Leesha gemischte Gefühle. Es schmerzte sie tief, diese Menschen zu sehen, lauter Freunde, die schwerste Verbrennungen und grausige Kratzwunden durch die Horclinge davongetragen hatten; doch wenn es den Dämonen erst einmal gelang, einen Schutzwall aus Siegeln zu durchbrechen, gab es nur selten Überlebende, und jeden einzelnen Dörfler, der noch einmal davongekommen war, fasste sie als ein Geschenk auf, für das sie dem Schöpfer inbrünstig dankte.
    Der Heilige Mann und sein Gehilfe, Jona das Kind, legten die Verletzten am Bachlauf nieder. Michel überließ es dem jungen Burschen, sie zu trösten, während er mit dem Karren zurückeilte, um weitere Opfer zu holen.
    Leesha wandte sich von der Szene ab und konzentrierte sich wieder darauf, die Eimer zu füllen. In dem kalten Wasser wurden ihre Füße taub, und ihre Arme fühlten sich bleischwer an, aber sie schuftete wie eine Besessene, bis ein Flüstern an ihre Ohren drang.
    »Da kommt Bruna die Hexe«, wisperte jemand, und mit einem Ruck hob Leesha den Kopf. Tatsächlich, die uralte Kräutersammlerin humpelte den Weg hinunter, geführt von ihrer Schülerin Darsy.
    Niemand wusste mit Bestimmtheit, wie alt Bruna war. Man munkelte, sie sei bereits ein betagtes Weib gewesen, als die Dorfältesten noch Jünglinge waren. Den meisten von ihnen hatte sie geholfen, das Licht der Welt zu erblicken. Bruna hatte ihren Gemahl, ihre Kinder und Enkelkinder überlebt und hatte keinen einzigen Familienangehörigen mehr.

    Nun glich sie einem Skelett, über das sich eine runzlige, durchscheinende Haut spannte. Halb blind, vermochte sie sich nur noch langsam schlurfend fortzubewegen, aber wenn sie die Stimme in die Höhe schraubte und brüllte, konnte man sie immer noch von einem Ende des Dorfes bis zum anderen hören, und wenn jemand ihren Zorn erregte, schwang sie ihren knorrigen Gehstock mit überraschender Kraft und Zielgenauigkeit.
    Leesha, wie fast jeder andere im Dorf auch, fürchtete sich schrecklich vor ihr.
    Brunas Schülerin war eine reizlose Frau von zwanzig Sommern, mit breitem Gesicht und feisten Armen und Beinen. Nachdem Bruna ihre letzte Schülerin überlebt hatte, schickte man ihr eine erkleckliche Anzahl junger Mädchen, die bei ihr in die Lehre gehen sollten. Doch das ständige Schimpfen und Nörgeln der Alten vertrieb sie alle, bis nur noch Darsy übrig blieb.
    »Sie ist hässlich wie ein Bulle und genauso stark«, hatte Elona einmal über Darsy gelästert und dabei meckernd gelacht. »Was hat sie von dieser miesepetrigen Hexe schon zu befürchten? Ganz bestimmt nicht, dass Bruna ihr die Freier verjagt.«
    Bruna kniete neben den Verwundeten nieder und untersuchte sie mit sicheren Händen, während Darsy ein dickes Tuch ausrollte, auf das überall Taschen genäht waren. Jede Tasche war mit Symbolen gekennzeichnet und enthielt ein Instrument, eine Phiole oder einen Beutel. Die verletzten Dörfler stöhnten oder schrien, als Bruna sich an ihnen zu schaffen machte; aber die Alte scherte sich nicht darum, sondern fuhr fort, Wunden zu betasten und

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