Das Lied der Dunkelheit
Hase zwischen den Siegeln hin und her rannte.
Dann passierte das Undenkbare. Beim Zurückspurten in den Kreis scharrte der Hase ein Siegel aus. Unter Triumphgeheul stießen Flammendämonen durch die Lücke und setzten dem Tier nach. Der einsame Winddämon konnte entkommen, sprang in die Luft und flatterte mit hektisch schlagenden Schwingen davon.
Mit der Gewandtheit eines Jungen, der auf dem Land groß geworden ist, streckte Arlen die Arme aus dem Kreis und packte den Hasen bei den Ohren. Der strampelte wild mit den Pfoten, um sich aus dem Griff zu befreien, aber auf den Feldern seines Vaters hatte Arlen oft genug Hasen gefangen. Mit Schwung nahm er das Tier in die Arme und drehte es so auf den Rücken, dass die Hinterbeine höher als der Kopf zu liegen
kamen. Sofort glotzte der Hase ihn mit leeren Augen an und hörte auf zu zappeln.
Arlen war versucht, das Tier einfach den Dämonen vorzuwerfen. Das wäre weniger gefährlich als zu riskieren, dass es ihm womöglich weglief und ein weiteres Siegel zerstörte. Was hindert mich eigentlich daran, den Mümmelmann den Horclingen zu überlassen?, fragte er sich. Hätte ich ihn am Tage gefangen, hätte ich ihn selbst gegessen.
Trotzdem brachte er es nicht übers Herz, den Hasen zu opfern. Die Dämonen hatten der Welt schon so viel geraubt, nicht zuletzt ihm selbst. Sie hatten ihm seine Mutter genommen. Und in diesem Moment schwor er sich, dass er diesen Bestien niemals freiwillig etwas überlassen würde, nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft.
Nicht einmal diesen Hasen sollten sie bekommen.
Die ganze Nacht lang hielt Arlen das verschreckte Tier in den Armen, sprach beruhigend darauf ein und streichelte das weiche Fell. Ringsum heulten und kreischten die Dämonen, doch Arlen blendete die entsetzlichen Szenen aus und konzentrierte sich ganz auf den Hasen.
Eine Weile gelang es ihm, sich von seiner Umgebung abzuschotten, bis ein wahrhaft furchtbares Gebrüll ihn aus seiner Versunkenheit riss. Als er hochblickte, entdeckte er den einarmigen Felsendämon, der sich vor ihm aufbäumte; Geifer lief aus dem weit aufgerissenen Maul und tropfte zischend auf die Siegel. Die Wunde des Monstrums war knapp unter dem Ellenbogen zu einem knotigen Stumpf verheilt. Der Dämon schien noch gereizter zu sein als in der Nacht zuvor.
Der Horcling hämmerte auf die Barriere ein, ohne sich um die grell zuckenden magischen Stichflammen zu kümmern, als sei er gegen die Schmerzen immun. Mit geradezu entfesselter Wildheit attackierte der Dämon das Siegelnetz, besessen von
dem Wunsch, es zu durchbrechen und Rache zu nehmen. Den Hasen fest an seine Brust pressend, beobachtete Arlen mit vor Angst geweiteten Augen die pausenlosen Angriffe gegen seinen Schutzwall. Sein Verstand sagte ihm, dass die Magie auch diesem wütenden Ansturm standhalten musste, und trotzdem bibberte er vor Furcht, es könne dem Monstrum doch noch gelingen, das schützende Netz zu zerreißen.
Als das Licht des frühen Morgens die Dämonen für die Dauer eines weiteren Tages vertrieb, ließ Arlen den Hasen endlich los, der unverzüglich davonhoppelte. Mit knurrendem Magen sah Arlen dem Tier hinterher, doch nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, hätte er es niemals über sich gebracht, dieses Wesen zu verspeisen.
Vom langen Kauern auf dem Boden war Arlen ganz steif geworden, und als er sich aufrichten wollte, wurde ihm plötzlich so übel, dass er taumelte und um ein Haar hingefallen wäre. Die Verletzungen an seinem Rücken brannten wie Feuer. Vorsichtig betastete er die empfindlichen, geschwollenen Stellen, und als er die Hand zurückzog, klebte an ihr der stinkende braune Schleim, den Coline aus Silvys Wunden gewaschen hatte. Jede Berührung des Rückens verursachte stechende Schmerzen, und er fühlte sich, als hätte er Fieber. Wieder nahm er ein Bad im Fluss, doch das kalte Wasser trug kaum dazu bei, die Hitze im Inneren seines Körpers zu mindern.
In diesem Augenblick wusste Arlen, dass er sterben würde. Die alte Mey Friman, sofern diese überhaupt existierte, hauste an einem ihm unbekannten Ort in dieser abgeschiedenen Gegend, mindestens noch zwei Tagesmärsche entfernt. Und wenn
ihn tatsächlich das Dämonenfieber gepackt hatte, war es so oder so um ihn geschehen; er würde es keine zwei Tage lang mehr aushalten.
Doch trotz allem wollte Arlen nicht aufgeben. Nie wäre es ihm eingefallen, einfach zu bleiben, wo er war, und auf den Tod zu warten. Verbissen stolperte er die Straße entlang und
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