Das Lied der Dunkelheit
geworden!«
»Im vergangenen Herbst kam überhaupt kein Kurier zu uns«, klärte Coran ihn auf und spuckte durch seine Zahnlücke einen schaumigen braunen Saft aus, der von der Wurzel stammte, auf der er gerade genüsslich herumkaute. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, ihm könnte was zugestoßen sein. Dachten, wir müssten bis zum nächsten Herbst auf die Salzlieferung warten. Oder dass die Horclinge die Freien Städte eingenommen hätten und wir total abgeschnitten wären.«
»Die Horclinge könnten niemals die Freien Städte einnehmen«, behauptete Arlen.
»Arlen, halt den Mund!«, zischte Silvy. »Einem Ältesten gibt man keine Widerworte!«
»Lass den Jungen ruhig aussprechen«, meinte Coran. »Warst du jemals in einer Freien Stadt?«, wandte er sich dann wieder an Arlen.
»Nein«, gab der Junge zu.
»Kennst du jemanden, der eine der Freien Städte aufgesucht hat?«
»Nein«, musste Arlen einräumen.
»Und was macht dich dann zu solch einem Experten?«, fragte Coran. »Außer den Kurieren war noch niemand dort. Sie sind die Einzigen, die so weit kommen, weil sie den Mut aufbringen, der Nacht zu trotzen. Wer sagt dir, dass die Freien Städte nicht genauso sind wie zum Beispiel deine Heimat Tibbets Bach? Wenn die Horclinge uns kriegen, dann können sie in den Freien Städten denselben Schaden anrichten.«
»Der alte Vielfraß stammt aus einer der Freien Städte«, warf Arlen ein. Rusco Vielfraß war der reichste Mann in Tibbets Bach. Er besaß den Gemischtwarenladen, der das allgemeine Handelszentrum im ganzen Weiler darstellte.
»Ay«, gab Coran ihm Recht, »und vor Jahren erzählte der alte Vielfraß mir, dass eine einzige Reise ihm gereicht hätte. Eigentlich hatte er vor, nach ein paar Jahren zurückzukehren, aber er fand, das Risiko sei zu groß. Du kannst ihn ja fragen, ob die Freien Städte sicherer sind als andere Orte.«
Arlen wollte es nicht glauben. Es musste einfach sichere Plätze in der Welt geben. Doch wieder zuckte das Bild, wie er in das schmale Kellerloch geworfen wurde, durch seinen Kopf, und er wusste, dass es in der Nacht nirgendwo einen zuverlässigen Schutz gab.
Eine Stunde später traf der Kurier ein. Er war ein groß gewachsener Mann von Anfang dreißig, mit kurz getrimmtem braunem Haar und einem kurzen, dichten Bart. Seine breiten Schultern schützte ein Hemd aus Metallgliedern, und er trug einen langen, dunklen Mantel; dazu Kniehosen aus derbem Leder und Stiefel. Die braune Stute, die er ritt, war ein eleganter, schlanker Renner. Am Sattel war ein Köcher befestigt, in dem eine Anzahl verschiedener Speere steckte. Die Miene des Mannes wirkte grimmig, als er näher kam, doch er trug den Kopf hoch und seine ganze Haltung drückte Stolz aus. Suchend wanderte sein Blick über die versammelten Menschen, und im
Nu entdeckte er die Dorfsprecherin, die dastand und Anweisungen erteilte. Er ritt in ihre Richtung.
Ein paar Meter hinter ihm hockte auf einem schwer beladenen Karren, der von zwei dunkelbraunen Maultieren gezogen wurde, der Jongleur. Seine Kleidung bestand aus grellbunten Flicken, und neben ihm auf der Sitzbank lag eine Laute. Sein Haar war von einer Farbe, die Arlen noch nie zuvor gesehen hatte, sie erinnerte an eine helle Möhre, und seine Haut war so blass als hätte sie noch nie ein Sonnenstrahl berührt. Seine Schultern hingen herab und er sah völlig erschöpft aus.
Der alljährlich eintreffende Kurier brachte immer einen Jongleur mit. Die Kinder und auch ein paar der Erwachsenen hielten den Jongleur für die wichtigere der beiden Personen. So lange Arlen zurückdenken konnte, war es immer derselbe Mann gewesen, grauhaarig, aber lebhaft und voller Humor. Dieser jedoch war jünger und machte einen griesgrämigen Eindruck. Die Kinder rannten sofort zu ihm hin, und der junge Jongleur wurde plötzlich munter. Seine mürrische Miene verflog so schnell, dass Arlen sich beinahe fragte, ob er sich nicht verguckt hatte. Geschwind wie der Blitz sprang der Jongleur vom Karren und wirbelte unter den begeisterten Zurufen der Kinder seine bunten Bälle durch die Luft.
Andere Leute, Arlen eingeschlossen, vergaßen ihre Pflichten und schlenderten zu den Neuankömmlingen hin. Doch sie hatten ihre Rechnung ohne Selia gemacht, die zu ihnen stürmte und sie anschnauzte: »Der Tag wird nicht länger, nur weil der Kurier gekommen ist! Zurück an eure Arbeit!«
Manch einer murrte, doch alle gehorchten dem Befehl. »Du nicht, Arlen«, pfiff Selia ihn zurück, als er sich dem
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