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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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Dahinter liegt ein Friedhof, der von blühenden Maiglöckchen übersät ist; der Flieder hat ebenfalls zu blühen begonnen, die Zweige mit den malvenfarbenen und weißen Blüten schaukeln in der sanften Brise. Von weiter oben aus den Eichenwipfeln ertönt Vogelgezwitscher. Doch trotz des schönen Wetters und der blühenden Bäume und Blumen strahlt der Friedhof eine schwermütige Stimmung aus. Eine seltsame Unordnung, um nicht zu sagen Chaos. Viele der Grabsteine neigen sich nach dem nassen Frühling zur Seite, die Erde ist uneben, buckelig, und nasses unkrautartiges Gras bemächtigt sich der Gräber. Man sieht, dass sich niemand um den Friedhof kümmert. Die Leibeigene, die früher die Gräber pflegte, gehört wahrscheinlich zu jenen, die dem Gut den Rücken gekehrt haben. Doch Pater Kirill ist bis jetzt nicht mit der Bitte an Antonina herangetreten, jemand anderen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Vielleicht wollte er es ja, aber sie hat ihn in letzter Zeit immer abgewiesen, wenn er sie sprechen wollte.
    Weil es ein lauer Tag ist, steht die Kirchentür offen. Nur an der rückwärtigen Wand gibt es ein paar Bänke, damit sich die Ältesten oder Kranken während des dreistündigen Gottesdienstes setzen können. Die restlichen Kirchgänger stehen oder knien. Die Buntglasfenster, die einige Heilige und die Gottesmutter mit Kind darstellen und die Konstantin aus Italien hat kommen lassen, leuchten in der Sonne und überziehen den Boden mit einem bunten Farbmuster. Die Reihen mit Kerzenhaltern aus rotem Glas haben etwas heiter Tröstliches, auch wenn an diesem Morgen nur eine einzige Kerze brennt. Antonina entzündet eine neue Kerze für Mischa, indem sie den Docht an die Flamme der anderen hält.
    Augenblicklich spendet die Kirche ihr Trost. Sie entzündet weitere Kerzen, beobachtet jedes Mal, wie der Docht kurz aufflackert und sich dann eine ruhige, gleichmäßige Flamme bildet. Abgesehen von einem Mann im staubigen Arbeitsanzug, der hoch über ihr auf einem Gerüst steht und die Zierleiste am Rand der hohen Decke neu streicht, hat Antonina die kleine Kirche ganz für sich. Nur das leichte Schaben seiner Stiefel ist zu hören, wenn er sich auf dem Gerüstbrett bewegt.
    Sobald sie ausgestreckt auf dem Boden liegt, die Arme ausgebreitet und die Stirn auf dem kalten Steinboden, hat Antonina ihn auch schon vergessen. Fast eine Stunde bleibt sie so liegen und dankt Gott, dass er ihren Sohn am Leben gelassen hat. Und dann hat sie eine Vision. Möglich, dass sie ihrer mangelnden Ernährung und dem fehlenden Schlaf geschuldet ist, jedenfalls sieht sie vor dem dunklen Hintergrund ihrer geschlossenen Lider etwas Weiches und Weißes.
    Es ist eine tröstliche, schwebende Vision.
    Ja, es könnte durchaus wieder ein Vogel sein, aber nicht wie der, den sie sah, als sie zu viel Laudanum genommen hatte. Dieser ist weiß, mit delikaten Federn und freundlich blickenden Augen. Aber es könnte durchaus auch ein Engel sein, warum nicht? Antonina möchte gern glauben, dass ein Engel über ihr schwebt.
    Die Vision ist so schön, dass sie das Gefühl hat, gemeinsam mit dem Engel oder Vogel in die Luft gehoben zu werden. Eine warme, wunderbare Ruhe überkommt sie. Es ist lange her, dass sie eine solche Ruhe verspürt hat. Auch lange bevor Michail entführt wurde. Wann hat sie zuletzt einen solchen Frieden empfunden? Vielleicht nicht mehr, seit sie ein unschuldiges Kind auf dem Gut ihres Vaters war. Möglicherweise ist sie auch nur im Begriff, in einen tiefen, natürlichen Schlaf zu versinken; es ist auch lange her, dass sie friedlich geschlafen hat. Doch was immer es auch ist, die Klarheit der Vision lässt sie weinen. Ihre Tränen fallen auf den Steinboden. Vor ihrem geistigen Auge beobachtet sie den Engel oder Vogel, wie er vor- und zurückschwingt, vor und zurück, in einem ruhigen, steten Rhythmus. Schließlich schwebt er bewegungslos über ihr; es ist, als würde das geflügelte Wesen von dem Auftrieb der wohlriechenden Kerzen getragen.
    Hinterher vermag sie nicht zu sagen, wie lange es so über ihr schwebt: ob für Sekunden oder Minuten. Dann beginnt es langsam, beinahe träge, die Flügel wieder zu bewegen.
    Antonina will nicht, dass es fortfliegt. Sie will, dass dieses Wesen über ihr in der Luft bleibt und sie segnet. Doch die Flügel schlagen immer schneller, dann hört sie ein Flattern, aber merkwürdigerweise ist das Geräusch plötzlich nicht mehr in ihrem Kopf, sondern außerhalb. Und ohne Vorwarnung wird sie in die Wirklichkeit

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