Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
niemandem mehr Angst. Und weil er vor nichts Angst hatte, dachte er, nichts könne ihm je wieder etwas anhaben.
Er empfand zwar keine Freude mehr, aber dafür beunruhigte ihn auch nichts mehr, und er machte sich nicht mehr so viele Sorgen.
Er fand eine Stelle als Fassmacher in einer Küferei am Stadtrand von Moskau, genau die Arbeit, die er als Lehrling bei seinem Vater gelernt hatte. Als er nach einem Jahr von einer besser bezahlten Stelle in Sankt Petersburg hörte, zog er dorthin. Aber er war immer noch ruhelos. Als sich ihm erneut eine Gelegenheit bot, diesmal auf einem Gut in der Provinz Pskow, dachte er, dass es dies vielleicht sei, wonach er suchte. Mit einem Empfehlungsschreiben von seinem Arbeitgeber in der Tasche und neu eingekleidet ritt er 1846 auf seinem Pferd, das er sich von dem abgesparten Lohn gekauft hatte – er nannte es Felja, wie jedes Pferd, das er von nun an besitzen würde –, zu dem Gut, das damals noch Polnokowe hieß, und wurde von Graf Mitlowski eingestellt.
Von Anfang an empfand er für den Grafen nur Verachtung – so wie für jeden, der ihm, abgesehen von seinem Vater, Befehle erteilt hatte. Der Graf und seine pockennarbige Frau taten, als schenkten sie ihren Dienstboten Gold, wenn diese sich an Weihnachten in einer Reihe aufstellen mussten, um eine Flasche Wodka überreicht zu bekommen – von jenem Wodka, für den Grischa die Fässer fertigte. Außerdem bekam jeder einen kleinen Beutel mit Kopeken, des Weiteren die Männer ein Stück Leder, um sich eine neue Weste oder einen Gürtel daraus zu machen, und die Frauen ein Stück Stoff. Wenn sie sich an Ostern erneut wie kleine Kinder aufreihen mussten, nur um ein paar gefärbte Eier und paski in Empfang zu nehmen, Kuchen aus gesüßtem Quark, Butter und Rosinen, ballte Grischa die Hände zu Fäusten.
Und beide Male mussten sie sich dankbar verbeugen und lebenslange Treue heucheln. Seinen Kuchen unter dem Arm unterdrückte Grischa die Erinnerungen an das Osterfest in Tschita und wie er mit seinem Vater und seinem kleinen Bruder in die mit einer grünen Kuppel überwölbte orthodoxe Kirche der Dekabristen gegangen war. Ostern war immer sein Lieblingsfest gewesen.
Aber seit er auf Polnokowe lebte, war ihm die Freude daran gründlich vergällt.
Ein Jahr nachdem Grischa auf das Gut gekommen war, starb die Gräfin. Nach wenigen Monaten begann der Witwer, die Wäscherin Tanja in sein Bett zu holen, die der Gräfin, bis hin zu ihrem pockennarbigen Gesicht, erstaunlich ähnlich sah. Ein weiteres Jahr später heiratete Mitlowski erneut. Seine zweite Frau war fast noch ein Mädchen, wie Grischa bemerkte, als sie aus der Kutsche stieg. Im Arm trug sie einen winzigen Hund mit einer rosa Schleife um den Hals. Die über sechzig Bediensteten des Hauses und der Stallungen wurden in den Hof befohlen und mussten sich auf dem Weg aufstellen, der von der geschwungenen Auffahrt zum Eingang des Gutshauses führte. Sie verbeugten sich tief aus der Hüfte.
Der Graf führte seine junge Frau über den gekiesten Weg. Auf den Eingangsstufen blieb er stehen. » Ich stelle euch die neue Gräfin Mitlowskaja vor « , verkündete er. » Richtet euch wieder auf und begrüßt sie. «
Die Bediensteten gehorchten.
» Als Willkommensgeschenk für meine Frau habe ich das Gut umbenannt, es heißt jetzt nicht mehr Polnokowe, sondern Angelkow. «
Die Bediensteten verharrten schweigend.
Die junge Hausherrin küsste die Ikone der Heiligen Jungfrau Maria, die die Haushälterin vor ihr hochhielt, und nickte lächelnd der Dienerin zu, die ihr zur Begrüßung Brot und Salz reichte. Auch wenn sie äußerlich ruhig wirkte, während sie vor jedem einzelnen Gutsbediensteten stehen blieb und in freundlichem, respektvollem Ton dessen Namen und Position wiederholte, erkannte Grischa die Unsicherheit in ihren Augen, ehe er sich verbeugte und sie sagen hörte: Grischa, Fassmacher.
Er nahm an, dass der Graf künftig von der Wäscherin ablassen würde, aber er irrte sich, wie sich herausstellte.
Die junge Frau brachte nicht nur frischen Wind in die strenge Atmosphäre des Gutshauses, sondern, wie sich bald herausstellte, auch in Grischas Leben, nämlich als sie zehn Monate nach ihrer Ankunft mit einem Jungen niederkam.
Während ihres ersten Jahres auf Angelkow gab es ein paar wenige Gelegenheiten, da er mit der jungen Gräfin ein paar Worte wechselte. Einmal kam sie in die Küferei und bat ihn, für Tinka, ihren Hund, ein Bett zu machen. » Ihr Samtbett ist schon ziemlich
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