Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
in den Hof geritten kam und das Notenblatt mit Mischas Nachricht zum Vorschein brachte, verspürte Grischa ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung. Der Junge war also nicht tot. Grischa ist froh. Soso hat ihn all diese Zeit über im Ungewissen gelassen, ihn auf die Folter gespannt, um ihn zu bestrafen.
Er hat jedoch nicht damit gerechnet, dass die Gräfin in den Hof kommen würde, als er mit Lew sprach; sie verlässt das Haus kaum noch. Ihre Freude angesichts der Nachricht ihres Sohnes kompliziert die Sache jedoch.
» Ich werde das Geld aufbewahren « , sagt er jetzt zu Lew. » Du glaubst doch nicht, ich würde es dir einfach so aushändigen. «
» Jetzt hast du ja einen Beweis, dass der Junge lebt. «
» Ja, aber du bekommst das Geld erst, wenn du das Kind zurückbringst. Hast du verstanden? Bevor Michail Konstantinowitsch nicht zurückgebracht wird, gibt es kein Geld. «
Lew sieht ihn so gehässig an, dass sich Grischa fragt, ob er gerade das Schicksal des Jungen besiegelt hat.
» Es wird eine Zeit lang dauern « , sagt Lew schließlich. » Wenn du mir das Geld nicht gibst, heißt es, dass ihr noch länger warten müsst. Wer weiß, wie lange. «
Grischa weiß, dass Lew auf Sosos Geheiß handelt. » Wo ist Mischa? «
» Er lebt, das habe ich dir bereits gesagt. Das ist das Einzige, was zählt, oder? «
Als Grischa nicht antwortet, sagt Lew: » Ich lass dich wissen, wann und wohin du das Geld bringen sollst, dann bekommst du auch den Jungen. «
Grischa tritt näher zu ihm. » Und das soll ich dir glauben? «
» Was bleibt dir anderes übrig? « , fragt Lew, dann dreht er sich um und geht zum Stall hinaus. Grischa sieht zu, wie er auf sein Pferd steigt und wegreitet. Bestimmt fällt ihnen der Junge allmählich lästig. Wie lange werden sie ihn wohl noch behalten?
Antonina sitzt hinter Konstantins Schreibtisch und betrachtet erneut Michails Nachricht. Die Seite stammt aus Mischas Kompositionsheft, das er an dem Tag, als er entführt wurde, schnell in die Tasche steckte, bevor er aus dem Musiksalon rannte.
Die Nachricht wurde mit einem Kohlestift in Michails vertrauter krakeliger Handschrift geschrieben. Während sie mit den Fingern darüber fährt, hört sie, wie Lew über die frisch gesäten Felder vom Gut weggaloppiert.
Er ist ganz offensichtlich unversehrt.
Meine liebe Mama, lieber Papa,
es tut mir leid, was im Wald passiert ist, nur weil ich mein Pferd nicht wenden konnte. Bist du jetzt wütend auf mich, Papa? Bekomme ich trotzdem einen kleinen Hund zum Geburtstag, Mama? Du hattest ja versprochen, dass ich einen bekomme, wenn es einigermaßen warm ist. Ich bete jeden Tag, dass ich zu meinem Geburtstag am Ende des Monats nach Hause kann. Mehr darf ich nicht schreiben.
Mischa.
Michails Geburtstag ist am 28. Juni.
» Am achtundzwanzigsten Juni « , sagt Antonina im Flüsterton.
Antonina geht mit Mischas Nachricht in Konstantins Zimmer und zeigt sie ihm.
Er wischt das Blatt mit einer Handbewegung weg. » Das ist eine Falle. Der Junge ist tot. «
» Konstantin, es ist ein handgeschriebener Brief, auf einer Seite aus Mischas Notenheft. «
» Er kann schon vor Längerem geschrieben worden sein. «
» Nein. Er schreibt … schau. Ich bete jeden Tag, dass ich zu meinem Geburtstag am Ende des Monats nach Hause kann. Sein Geburtstag ist am Ende dieses Monats, Kostja. Er hat es erst in den letzten Tagen geschrieben. Er kommt zu uns zurück, Kostja. Ich habe dem Mann nochmals Geld gegeben, und diesmal werden sie ihn uns zurückbringen. «
» Du Idiotin! « Konstantin steht auf und schlägt Antonina mit dem Rücken der ihm verbliebenen Hand ins Gesicht. Er verliert fast das Gleichgewicht, fängt sich aber wieder. Auch wenn der unerwartete Schlag schmerzt, sagt sie trotzig: » Er wird nach Hause kommen. « Abrupt dreht sie sich um und verlässt das Zimmer ihres Mannes, um in ihr eigenes zurückzukehren, wo sie ein feuchtes kühles Tuch auf die geschwollene Wange und aufgeplatzte Lippe legt.
Am Tag nachdem sie Michails Nachricht erhalten hat, steht sie entschlossen von ihrem zerwühlten Bett auf. Sie ist wieder voller Hoffnung – berechtigter Hoffnung – und spürt mit einem Mal das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen. Sie will Gott danken, dass er ihre Gebete erhört hat.
Sie zieht sich an und schlüpft unbemerkt aus dem Haus und überquert den Hof; sie will nicht einmal Lilja dabeihaben. Sie geht durch das Wäldchen in der Nähe des Gutshauses und erreicht die Erlöserkirche von Angelkow.
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