Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
herausgekriegt. Er zieht von Dorf zu Dorf; er hat keinen festen Wohnsitz. Er ist nur der Bote und hat selbst nichts mit der Entführung zu tun. Er weiß nicht mehr, als er uns gesagt hat. Wir müssen Geduld haben, Gräfin.
Geduld? Hat sie nicht lange genug Geduld gehabt?
Das Leben auf dem Gut ist noch schwerer geworden. Konstantin ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Wie ein Geist schleicht er durchs Haus und versetzt die Dienstboten mit seinem Geschrei in Angst und Schrecken; er nennt sie beim falschen Namen und beschuldigt sie des Diebstahls und Ungehorsams. So gut wie möglich gehen sie ihm aus dem Weg und bekreuzigen sich, wenn sie ihn erblicken. Außer Tanja will keine der Frauen in sein Zimmer gehen, um sauber zu machen, und er weigert sich, den Arzt zu empfangen. Pawel ist der Einzige, den er in seiner Nähe duldet. Allerdings erlaubt er auch seinem treuen Kammerdiener nicht, ihn zu baden oder seine Kleidung zu wechseln. Sein Haar ist lang und fettig geworden, sein Bart voller Essensreste. Er ist felsenfest überzeugt, dass sein Sohn tot ist, und manchmal begibt er sich zum Friedhof, um sein Grab zu suchen.
Im Sommer waren ihre nächsten Nachbarn, Prinz und Prinzessin Bakanew, drei Mal zu Besuch auf Angelkow. Jedes Mal musste Antonina ihren Mann entschuldigen. Sie sagte, er ruhe sich aus. Während Antonina ihnen Erfrischungen anbot, hatte sie größte Mühe, sich auf das Geplapper der Prinzessin zu konzentrieren, die unentwegt den neuesten Klatsch und Tratsch hervorsprudelte. Innerlich flehte sie inständig darum, dass Konstantin oben in seinem Zimmer nicht herumschreien würde, solange der Besuch da war. Die anderen Grundbesitzer der Provinz haben Briefe geschickt, in denen sie ihr Mitgefühl wegen Michail bekunden, sich nach dem Gesundheitszustand des Grafen erkundigen und Antonina auf ihr Gut einladen. Höflich hat sie ihnen geschrieben, dass sie gerade eine schwere Zeit durchlebt, aber zu einem späteren Zeitpunkt die Einladung gern annehmen wird.
Nach einer Weile sind die Einladungen seltener geworden.
Immer mehr der früheren Leibeigenen verlassen Angelkow – nicht nur weil sie keine Leibeigenen mehr sind und damit ihrem einstigen Besitzer gegenüber keine Rechenschaft mehr ablegen müssen, sondern auch weil der Gutsherr offensichtlich den Verstand verloren hat. Außerdem ist die Geldschatulle leer, und Antonina kann die Leute nicht mehr bezahlen. Die meisten haben also beschlossen, lieber ein neues Leben zu beginnen, statt noch länger die verstörende Atmosphäre von Angelkow zu ertragen.
Einer nach dem anderen kommen sie zu Antonina, um ihr zu sagen, dass sie weggehen, und Antonina bedankt sich für ihre treuen Dienste. Jedem gibt sie ein kleines Geschenk: den Mädchen und Frauen einen ihrer hübschen Schals oder einen Schildpattkamm oder Flakon mit Duftwasser; den Männern schenkt sie etwas von Konstantin: ein Paar Handschuhe mit seinem Monogramm oder ein Leinenhemd.
Ehe sie sie entlässt, macht sie das Kreuzzeichen auf ihre Stirn. Einige der Frauen weinen, dann hält sie einen Moment ihre Hände in den ihren, während sie sich ein Lächeln abringt, und wünscht ihnen alles Gute.
Das Haus fühlt sich jetzt größer an, leerer und ruhiger, abgesehen von Konstantins gelegentlichen Ausbrüchen. Abends, wenn sich draußen Stille herabsenkt, kann Antonina aus der Ferne die Geräusche der Bauern hören, die noch auf den Feldern arbeiten: ihre Rufe und Pfiffe, den steten Rhythmus ihrer Sensen. Es bleibt lange hell, und sie arbeiten, bis es dunkel wird.
Die wenigen, die auf Angelkow geblieben sind – die, die beschlossen haben, für ein Dach über dem Kopf und geregelte Mahlzeiten zu arbeiten, statt einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen –, haben Mühe, das viele Obst und Gemüse in den Gärten zu ernten. Raisa berichtet Antonina, dass sie es möglicherweise nicht schaffen werden, ehe der erste Frost einsetzt. Sie hat nicht genügend helfende Hände, um die anfallenden Arbeiten zu bewältigen: Salzgurken müssen in riesigen Tontöpfen eingemacht werden; im Obstgarten müssen die Früchte gepflückt werden, um dann zu Marmelade und Kompott verarbeitet und konserviert zu werden; Kartoffeln und anderes Wurzelgemüse müssen ausgegraben und in Säcke verpackt werden, um sie dann in großen Behältern in dem dunklen, weitläufigen Keller zu lagern. Schweine- und Rindfleisch müssen gepökelt, Pilze getrocknet werden – all die Arbeiten, die nötig sind, um die Vorratslager für das ganze Gut
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