Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Nachts war sie so erschöpft, dass sie beim Stillen weinte, während sie gleichzeitig versuchte, die Mädchen zu beruhigen, damit sie Soso nicht aufweckten und er einen Wutanfall bekam. Sie war froh, Ljoscha zu haben; er half ihr, so gut er konnte, wiegte einen der heulenden Säuglinge im Arm, während sie mit dem anderen beschäftigt war. Auch andere kleinere Aufgaben übernahm er. Zum Beispiel rührte er die Buchweizengrütze auf dem Herd, damit sie nicht anbrannte, suchte korbweise getrockneten Kuhdung und sorgte dafür, dass das Feuer nicht ausging.
Als Lilja jetzt Antoninas Freude sah, überkam sie fast ein wenig Traurigkeit. Sie wünschte, sie hätte diese Erfüllung auch nur ansatzweise mit ihren eigenen Kindern erleben können. Sie hatte deren winzige Gesichter und dünne Haare betrachtet. Das Mädchen, das länger gelebt hatte als sein Schwesterchen, hatte gerade zu lächeln begonnen, und Lilja erinnerte sich, wie ihr das einen Anflug von Freude beschert hatte. Aber sie hatte große Mühe gehabt, neben der Versorgung des Säuglings die Feldarbeit zu bewältigen, ihre Hütte sauber zu halten, zu kochen und gleichzeitig Soso zufriedenzustellen. Nachdem auch das zweite Mädchen beerdigt war, konnte sie nach Monaten zum ersten Mal wieder durchschlafen. Am nächsten Morgen erwachte sie mit schwerem Herzen, aber auch erleichtert.
Wie anders war es für Antonina, dachte sie, während sie beobachtete, wie diese sich in ihrem großen, frisch bezogenen Bett ausruhte, las und an ihrem Tee nippte, ihr Baby neben sich und Tinka am Fußende des Bettes. Wenn das Kind auch nur einen Pieps von sich gab, legte sie augenblicklich das Buch zur Seite, stellte die Teetasse auf den Nachttisch und bedeckte das Gesicht des Babys mit Küssen. Lilja wusste, welche Antwort Antonina am liebsten gehört hätte, und deswegen sagte sie zu ihrer Herrin, ja, es sei normal, dass sie in ihr eigenes Kind verliebt war, denn genau so habe die Natur es vorgesehen. » Die Liebe zu seinem Kind ist vielleicht die einzig wahre Liebe, die eine Frau in ihrem Leben erfährt, abgesehen von der zu Gott. «
Antonina sah sie an. » Ja, das stimmt. Die Liebe zu seinem Kind und zu Gott. « Sie fragte Lilja nicht, ob sie es für möglich halte, dass man eine ebensolche Liebe auch zu einem Mann empfinden könne.
An den Abenden, an denen Konstantin Freunde zu Gast hatte oder das Haus unter dem Vorwand verließ, er habe sich um irgendwelche Gutsangelegenheiten zu kümmern, bat Antonina Lilja, bei ihr zu bleiben, während sie Michail vor dem Schlafengehen ein letztes Mal stillte.
Wie alle Dienstboten wusste Lilja, dass der Graf den einen oder anderen Abend mit der Wäscherin verbrachte. Sie fragte sich, ob Antonina ahnte, was ihr Mann trieb.
Eines Abends, als Michail drei Monate alt war, lag Antonina im Bett, den Kleinen in ihrer Armbeuge neben sich. Sie hatte ihn gerade gestillt, und er schlief mit geschürzten Lippen. In der anderen Hand hielt Antonina ein Buch und las.
Lilja saß auf einem Stuhl in der Nähe und nähte an einem Spitzenkleidchen für Michail.
Antonina ließ ihr Buch auf die Bettdecke sinken. » Meine Augen tun mir weh. Lies du mir bitte vor, Lilja. «
Lilja hob den Blick von ihrer Handarbeit und zuckte die Achseln. » Du weißt genau, dass ich nicht lesen kann. «
» Ich werde es dir beibringen. In ein paar Wochen, wenn Mischenka ein bisschen größer ist, beginnen wir damit. « Sie küsste ihn auf das Köpfchen.
» Wie du meinst, Tosja. « Lilja wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu. » Dann lerne ich eben lesen, wenn du es willst, auch wenn ich nicht weiß, welchen Nutzen es in meinem Leben haben soll. «
» Du musst lesen, Lilja « , sagte Antonina, als handelte es sich um eine unumstößliche Tatsache, und deutete mit einer Handbewegung auf den Bücherstapel auf ihrem Nachttisch.
Lilja sah erneut von dem Babykleidchen hoch. » Ich habe keine Zeit für solche Dinge. «
» Dann gebe ich dir eben mehr Zeit. Ich werde dafür sorgen, dass eine der anderen Frauen einen Teil deiner Aufgaben übernimmt, wie zum Beispiel das da – das Nähen. Du hättest dann auch Zeit zum Lesen. Beim Lesen lernt man so vieles über die Welt. «
Lilja nähte weiter. Schließlich sagte sie: » Ich brauche nicht mehr zu wissen, als was ich schon weiß. «
Antonina beugte sich vor, doch ehe sie antworten konnte, fuhr Lilja fort: » Was würde es mir nützen, mehr zu wissen, wo meine Welt doch diese hier ist, Tosja? Würde ich nicht nur unglücklich
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