Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
immer wie ein Sklave den Launen seines Herrn ausgesetzt war. Dass er Konstantin für weniger intelligent als sich selbst hielt, machte diesen Zustand besonders unerträglich für ihn. Als Grischa ein Jahr lang Verwalter war, sagte der Graf zu ihm, er sei es leid, mit Tanja im Gutshaus heimlich in eine dunkle Kammer zu huschen, und sie im Bedienstetenquartier aufzusuchen sei unter seiner Würde. Kurz und gut, er wollte einmal in der Woche Grischas Haus benutzen. Grischa war fassungslos und angewidert, aber was hätte er sagen sollen? Zwar war er selbst nicht Eigentum des Grafen, wohl aber sein Haus.
Gewiss war ein Teil von Grischas Unrast diesen Umständen geschuldet. Zum Teil aber auch seiner Einsamkeit.
Doch nachdem er so lange so hart gearbeitet hatte, dass er nichts mehr fühlte, war Grigori Sergejewitsch Naryschkin unfähig zu erkennen, dass er einsam war.
In ihren morgendlichen Gebeten dankte Antonina Gott, dass er sie Lilja hatte wiederfinden lassen. Sie bedauerte jedoch, dass ihre Freundschaft verborgen bleiben musste. Nur wenn sie allein in ihrem Zimmer waren, konnten sie und Lilja miteinander reden wie in früheren Zeiten. Dann durfte Lilja sie Tosja nennen statt Gräfin oder gnädige Frau und mit ihr fast so offen reden wie früher. Manchmal, wenn Lilja herzlich über Mischas Grimassen oder Streiche lachte, erschien sie Antonina fast wieder wie das Mädchen, das sie gewesen war, als sie sich auf der Lichtung im Wald getroffen hatten.
Bisweilen fragte sie sich, wie Liljas Leben jenseits des Gutshauses aussehen mochte, aber diese hatte mehr als einmal deutlich gemacht, dass sie nicht über Soso reden wollte. Nur über Ljoscha sprach sie oft voller Stolz; sie erzählte Antonina, wie schnell er wuchs und dass er im Pferdestall zusehends verantwortungsvollere Aufgaben übertragen bekomme.
Als Lilja eines Morgens Mischas blondes Haar mit der Hand glättete und dabei lächelte, fragte Antonina sie: » Und was ist mit dir, Lilja, hättest du gern noch Kinder? «
Liljas Lächeln erstarb, während sie fortfuhr, mit der Hand über Mischas Haar zu streichen. » Das will ich nicht hoffen. Ich möchte keine Kinder mehr. «
» Wirklich? « Antonina legte ihre Hand auf Liljas Arm. » Du wirst immer mein Kammermädchen bleiben, ob mit Kindern oder ohne. Das verspreche ich dir « , sagte sie. » Und ich will, dass auch du wieder glücklich bist, so wie ich es seit Mischas Geburt bin. «
Als Lilja nichts darauf sagte, fuhr Antonina fort: » Bestimmt hast du es nicht so gemeint, dass du keine Kinder mehr willst. Was ist mit Soso? Wünscht er sich nicht auch einen Sohn, so wie alle Männer? «
Lilja zuckte nur die Achseln, und damit war das Gespräch beendet.
Lilja war froh, dass Antonina sie auch nachts brauchte, solange das Baby noch klein war, und sie bei ihr im Zimmer übernachten konnte. Doch als das Kind größer wurde und Antonina ihr sagte, sie könne jetzt wieder zu Soso in das Zimmer im Dienstbotenquartier zurückkehren, fand Lilja immer wieder einen Vorwand, um möglichst lange bei Antonina bleiben zu können. Ihre Abneigung, mit Soso das Lager zu teilen, war noch genauso groß wie zu Beginn ihrer Ehe. Deswegen kehrte sie so spät wie möglich in ihr Zimmer zurück. Sie wollte sichergehen, dass Soso bereits schlief, und nicht befürchten müssen, dass er sich plump auf sie wälzen würde.
Sie wusste, je seltener sie sich ihm hingeben musste, desto geringer waren die Chancen, nochmals schwanger zu werden. Sie verabscheute es, die Beine für ihn spreizen zu müssen.
Antonina wusste nicht, dass es Lilja leichter ertrug, wenn sie sich den langen weißen Hals der schönen Gräfin vorstellte, wenn ihr Mann sich schwerfällig auf sie legte, so wie sie selbst in den Nächten, in denen sie ihren ehelichen Pflichten nachkommen musste, von Walentin Wladimirowitsch träumte.
EINUNDZWANZIG
E s ist jetzt Anfang September. Michails Geburtstag Ende Juni ist vorübergegangen, ohne dass eine weitere Nachricht von ihm eingetroffen ist. Immer wieder stellt Antonina Grischa die gleichen Fragen: Was hat dieser Lew gesagt, als du ihn verprügelt hast, um etwas aus ihm herauszubringen? Warum bist du ihm nicht gefolgt, um zu sehen, wohin er ritt? Du hättest vor seinem Haus warten, ihn beschatten können. Er hatte das Lösegeld. Also mussten die Entführer es doch bei ihm abholen.
Und so wie Antonina ihn mit den immer gleichen Fragen in den Ohren liegt, gibt Grischa ihr die immer gleichen Antworten: Ich habe nichts aus ihm
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