Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
zu füllen, damit im Winter genug zum Essen für alle da ist. Raisa ist eine große, robuste Frau mit kräftigen Händen. Die Haushälterin, für gewöhnlich gut gelaunt, hat in letzter Zeit tiefe Sorgenfalten im Gesicht.
Nachdem Angelkow einen Großteil der Hunderte von Händen verloren hat, die es bedarf, um ein so großes Gut zu unterhalten, beginnt es allmählich zu zerbröckeln. Unterdessen hört Antonina, dass die Leibeigenen außerhalb des Gutes zusehends mächtiger werden.
Die Welt, die sie kennt, ist im Begriff unterzugehen.
Auch für Lilja hat sich das Leben verändert.
Sie und Ljoscha arbeiten Seite an Seite im Garten; sie graben die letzten Steckrüben aus. Gleich, welche Aufgaben man früher hatte, jeder muss jetzt die Arbeiten ausführen, die am vorrangigsten sind.
» Lilja « , sagt Ljoscha, während sie kurz innehalten, um Wasser zu trinken, » was, glaubst du, wird geschehen? «
» Wie meinst du das? «
» Wie lange werden der Graf und die Gräfin auf Angelkow bleiben können? « Er machte eine Handbewegung in Richtung des Gutshauses. » Man merkt doch schon, dass es an allen Ecken und Enden an Personal fehlt. Über kurz oder lang wird alles auseinanderbrechen. Überall spürt man den Verfall. Sie müssen sich überlegen, ob sie woanders hinziehen. «
Lilja mustert ihn. » Die Gräfin hat mir nichts davon gesagt. Was den Grafen betrifft … « Sie zuckt die Achseln. » Der ist zu nichts mehr zu gebrauchen, könnte ebenso gut tot sein. Aber warum fragst du? Hast du etwas gehört? «
» Nein « , sagte er, aber Lilja sieht, dass er etwas vor ihr verbirgt.
» Die Gräfin wird bestimmt einen Weg finden, um einige der Dienstboten wieder einzustellen, auch wenn es ein wenig Zeit braucht « , sagt sie. » Dann wird alles wieder so sein, wie es war. « Aber das stimmt nicht ganz. Nicht ohne Mischa. Nicht wenn der Zustand des Grafen so bleibt oder sich gar verschlechtert. Aber sie ist fest entschlossen, mit Antonina dafür zu kämpfen, dass auf Angelkow wieder das frühere Leben einkehrt. Ja, sie beide. Gemeinsam werden sie es schaffen.
Ljoscha fährt mit der Handfläche über den Griff des Spatens und schüttelt den Kopf. » Die Dinge werden nie wieder sein, wie sie einmal waren, Lilja. Das weißt du genau. «
» Doch, das werden sie. Du wirst hierbleiben, und ich … «
Ljoscha unterbricht sie. » Ich habe vor zu heiraten, Schwester. «
Lilja lässt den Spaten fallen und starrt ihn mit offenem Mund an. Ein heiserer Laut dringt aus ihrer Kehle, als wollte sie lachen. Der Schweiß läuft ihr in der warmen Herbstluft übers Gesicht. » Heiraten? Wen willst du denn heiraten? « , fragt sie. » Was redest du da? «
» Ich werde Anja Fomowna heiraten. «
Lilja blinzelt verwirrt. » Anja Fomowna? « Doch nicht dieses käsige Mädchen aus dem Dorf? Die doch nicht!
» Doch. «
» Hör auf mit diesem Unsinn. Sie ist nicht gut genug für dich. «
Ljoscha hat geahnt, dass seine Schwester die Nachricht nicht begeistert aufnehmen würde. Er hat sich lange davor gedrückt, es ihr zu erzählen. Schon seit einigen Wochen hat er auf die richtige Gelegenheit gewartet, bis ihm irgendwann aufging, dass es sie nie geben würde. » Sprich nicht so von ihr « , sagt er. » Du kennst sie ja gar nicht. «
» Ich weiß, dass sie ein Bauernmädchen ist. Ich habe dich nicht großgezogen, damit du ein Bauernmädchen heiratest. « Lilja hat die Stimme erhoben, sie klingt wütend.
» Was redest du denn da? Wir sind auch Bauern, Lilja. Was für eine Frau sollte ich denn deiner Meinung nach heiraten? «
Liljas Wut ist so schnell wieder verflogen, wie sie aufgeflammt ist. Sie spricht jetzt wieder leiser. » Ich … ich habe einfach nie daran gedacht, dass du so bald heiraten willst. «
» Du siehst in mir noch immer deinen kleinen Bruder, aber ich bin jetzt zwanzig. Es ist Zeit, dass ich mein eigenes Leben beginne, eine Familie gründe. «
Lilja fasst ihn am Ärmel. » Ich bin deine Familie. Ich, Ljoscha. «
Ljoscha ergreift ihre Hände und lächelt. » Wir werden immer eine Familie sein, Lilja. Du bist und bleibst meine Schwester, und du weißt, wie dankbar ich dir bin. Aber jetzt ist es Zeit für mich, mir eine Frau zu nehmen. Du hast Soso; er wird dich bestimmt bald nachkommen lassen, oder? «
Lilja starrt ihn an. » Soso? Ich bin froh, dass ich den los bin. Aber … gibt es denn schon einen Hochzeitstermin? Habt ihr die Hochzeit hinter meinem Rücken geplant? «
Ljoscha lässt ihre Hände los. » Du hast nicht
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