Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
werden, wenn ich wüsste, was sich hinter dem Schlamm der Dörfer befindet, jenseits der Flüsse und Ströme, jenseits der Gutsgrenzen, wo ich doch nie mehr haben werde als das hier? « Ihr Blick begegnete dem von Antonina.
Das schlafende Kind schniefte leicht, seine Augenbrauen zuckten, und Antonina lehnte sich wieder zurück. » Aber, Lilja, vielleicht wird irgendwann eine Zeit kommen, da du mehr Möglichkeiten haben wirst. Du hast doch bestimmt schon von den Bestrebungen gewisser Kreise gehört, die die Leibeigenschaft abschaffen wollen. Wenn es je dazu kommen sollte … «
Lilja hob die Hand, und Antonina hielt inne. » Es wäre mir lieber, du würdest mir gegenüber nicht von diesen Dingen sprechen, Tosja. Ich ziehe es vor, mein Leben weiterzuleben, wie es ist. Ich will gar nicht … « Sie runzelte die Stirn, als wäre sie wütend auf sich selbst oder aber auf Antonina.
» Du ziehst es vor, dir nicht mehr vorzustellen als das, was du heute hast. Hast du denn gar keine Träume? « Antonina fragte sich, ob Lilja noch immer den Wunsch hegte, ins Kloster zu gehen.
Lilja durchtrennte mit den Zähnen den Faden und steckte die Nadel ins Nadelkissen. » Das hier ist mein Traum. Genau davon habe ich geträumt. Und nun ist er Wirklichkeit. « Noch immer das Babykleidchen in der Hand starrte sie Antonina an. » Verstehst du? Ich habe alles, was ich will, hier, in diesem Zimmer, Tosja. «
Antonina war irritiert von der Intensität, mit der Lilja sie ansah, doch plötzlich stieß das Baby ein Wimmern aus und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Grischa wusste, dass er seine neue Stellung und sein neues Leben Antonina zu verdanken hatte. Als der Graf ihn in sein Arbeitszimmer kommen ließ und ihm sagte, dass für ihn vielleicht die Möglichkeit bestehe, Glebs Nachfolge als Verwalter anzutreten, war Grischa völlig überrascht.
Verwalter auf einem Gut war die begehrteste Position für einen freien Mann ohne Titel oder Land.
» Meine Frau hat den Eindruck, dass du ein ausgeglicheneres Gemüt hast als Gleb und einen respektableren Verwalter abgäbst « , sagte der Graf. » Und dem Gut täte ein Wechsel ebenfalls gut. Mit jemand Neues, der den Leibeigenen sagt, was zu tun ist, werden die Leute vielleicht leistungsbereiter sein. Du würdest ein sehr viel höheres Gehalt bekommen, als was ich dir als Küfer bezahle « , fügte er hinzu. » Und, hast du Interesse? «
» Ja, Graf Mitlowski. Ich kann Ihnen versichern, dass ich eine solch verantwortungsvolle Position mit allerhöchster Ernsthaftigkeit ausfüllen würde. «
Konstantin nickte. » Meine Frau hat mir gesagt, du kannst lesen. «
» Ja, Russisch und Französisch. «
» Französisch? «
Grischa fragte sich, ob er zu viel verraten hatte. » Nur ein bisschen « , sagte er schnell, wobei das gelogen war. » Und falls es erforderlich ist, werde ich auch lernen, wie man Bücher führt. «
» Gut. Ich werde für Gleb erst eine andere Aufgabe aussuchen, wenn du gezeigt hast, dass du dieser Stellung würdig bist « , erwiderte der Graf. » Du bekommst zwei Wochen Probezeit. «
Grischa wusste, dass die folgenden zwei Wochen nicht leicht werden würden, zumal Gleb klar sein musste, dass er und seine Frau wegen ihm womöglich auf ein anderes Gut umziehen müssten. Andererseits war es Graf Mitlowski, der über Glebs Zukunft bestimmte und nicht er selbst.
Grischa brauchte nicht lange, um dem Grafen zu beweisen, dass er nicht nur die Buchhaltung besser beherrschte als Gleb, sondern sich auch längst nicht so oft beschwerte wie dieser. Probleme mit den Leibeigenen löste er auf eigene Faust. Im Gegensatz zu Gleb rannte er nicht ständig zum Grafen, um diesem irgendeine Kleinigkeit umständlich darzulegen, damit dieser ihm sagte, wie er sie regeln sollte.
Zwei Wochen später zog er in das Verwalterhaus ein. Als Erstes strich er die Fensterläden blau an wie die der Holzhäuser in Tschita, wo er aufgewachsen war. Statt Gemüse pflanzte er Kirsch- und Apfelbäume im Garten. Er zimmerte ein paar Regale, um die Bücher unterzubringen, die er aus Sibirien mitgebracht hatte, jene, die er seitdem gekauft hatte, und jene, die die Gräfin ihm lieh, wenn sie meinte, der jeweilige Autor könne ihm gefallen.
Abgesehen von der Zeit, als er allein durch Sibirien gereist war und unter freiem Himmel genächtigt hatte, schlief er zum ersten Mal in seinem Leben allein in einem Zimmer.
Trotz allem verließ ihn das tiefe Gefühl der Ruhelosigkeit nicht. Er glaubte, es läge daran, dass er noch
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