Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
klopft Olga leise an ihre Tür und erklärt ihr, dass Fjodor sie dringend sprechen muss.
Antonina hat die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um das, was sie im Dorf erlebt und was sich später zwischen ihr und Grischa in der Datscha zugetragen hat. Der Arzt hat ihr gesagt, dass sich Konstantin in der Nacht, die er im Freien verbrachte, eine schlimme Grippe zugezogen hat und dass er am nächsten Tag wiederkommen werde, um nach ihm zu sehen.
Ich bin schuld, denkt sie. Sie hat so viel Schuld auf sich geladen.
Sie wirft einen Schal über ihr Nachthemd und schließt Tinka in ihrem Zimmer ein. Dann geht sie barfuß die Treppe hinunter. Ihr zu einem langen Zopf geflochtenes Haar hat sie locker um den Kopf geschlungen, ihr Gesicht spiegelt blankes Entsetzen wider. In diesem Moment kümmert es sie nicht, wenn die Dienstboten sie in diesem Zustand sehen. Was macht das schon?
Während sie die Stufen hinabeilt, bemerkt sie ein Ziehen an den Innenseiten ihrer Oberschenkel, und wieder muss sie an das denken, was sie mit Grischa getan hat.
Im Vestibül steht Fjodor und dreht nervös seine Kappe in den Händen. Sein Gesicht ist blass und angespannt. Antonina hat keine Ahnung, was sein Ausdruck zu bedeuten hat.
» Gräfin « , sagt er, » es gibt … Es gibt schlechte Neuigkeiten, fürchte ich. «
Kann es denn noch schlimmer kommen? » Heilige Muttergottes « , murmelt sie. » Bitte. Es ist doch nicht Michail? Was ist mit ihm? Los, sag es mir, Fjodor. « In ihrer Stimme ist Panik.
Er blickt zu Boden und dreht seine Kappe noch schneller in den Händen. » Tut mir leid, Gräfin « , sagt er. » Eines der Pferde … «
Antonina atmet auf. Es ist also nicht Michail. » Dunja? Ist sie krank? «
» Nein, Felja. Grischas Pferd. Es ist tot. Tut mir leid, gnädige Frau. «
Sie braucht einen Moment, um die Nachricht zu verdauen. Sie weiß, wie sehr Grischa sein Pferd geliebt hat. » Aber gestern hat ihm noch nichts gefehlt. Grischa hat ihn gestern noch geritten. « Sie will an Fjodor vorbeieilen in Richtung des Stalls, um selbst zu sehen, was Grischas Pferd zugestoßen ist, doch der Stallmeister hält sie am Arm zurück. Sie blickt auf seine klobigen Finger hinab, die auf dem delikaten Stoff ihres Ärmels liegen. Seine Fingerknöchel sind dunkel verfärbt, als wären sie geprellt. Auf seinem Handrücken ist ein tiefer, verschorfter Schnitt, der sich bis zum Handgelenk zieht. Er sieht Antonina an und zieht seine Hand zurück.
» Besser, Sie tun sich das nicht an, Gräfin. Sie sollten das Pferd nicht in diesem … « Er unterbricht sich, und Antonina spürt, wie sich ihr Magen verkrampft. » Es ist wirklich sehr unangenehm, gnädige Frau, aber ich musste es Sie wissen lassen. Der Kadaver wird gleich weggeschafft. «
Antonina schiebt sich an ihm vorbei, eilt aus dem Haus und begibt sich in ihrem Nachthemd zum Pferdestall. Obwohl sie barfuß ist, spürt sie beim Überqueren des Hofs nicht, wie kalt, feucht und klebrig die gestampfte Erde vom gestrigen Regen ist. Sie hört Fjodors Schritte hinter sich, der ihr folgt. In der kühlen Herbstluft bildet ihr Atem Wölkchen. Eine Handvoll Männer steht im offenen Stalltor. Als sie sie kommen sehen, senken sie den Blick und bilden eine Gasse, um sie durchzulassen. Ohne sie zu beachten, eilt sie zu Feljas Stand.
Der Pferdestall ist fast leer. Während der letzten Wochen hat Grischa die meisten der Orlow-Traber verkauft – die als Krone der russischen Pferdezucht gelten – und einen guten Preis für sie erzielt. Jetzt sind nur noch sechs übrig: drei der Orlows, die das Gespann der Troika bilden, Dunja und ein Araber. Und bis vor Kurzem Felja natürlich.
Ljoscha steht breitbeinig vor dem abgetrennten Stand, als wollte er ihn bewachen. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, seine Wangen feucht. Er schüttelt den Kopf, murmelt: » Nein, Gräfin « , aber sie schiebt ihn beiseite.
Antonina starrt in die Pferdebox und versucht zu verstehen, was sie sieht. Sie presst die Lippen zusammen, um nicht zu schreien angesichts dessen, was von Felja übrig ist. Sie schlägt sich die Hand vor den Mund. Schwärme von Fliegen belagern das Tier, und der Gestank nach Blut und hervorquellender Eingeweiden schlägt ihr entgegen.
Antonina muss würgen, nicht nur wegen des Gestanks, sondern auch der offenkundigen Brutalität, mit der der Täter vorgegangen ist.
Felja, der edle, temperamentvolle Felja, wurde vom Halsansatz bis zum Schweif aufgeschlitzt. Sein Bauch klafft auseinander, und
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