Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
erkennt sie, dass es nicht Walentin ist: Dieser Mann ist kleiner und korpulenter. Sie geht die Treppe hinunter, und als Pawel auf das Klopfen hin die Tür öffnet, steht ein Fremder da, der ihm einen Brief gibt und sich mit einer kurzen Verbeugung wieder verabschiedet.
» Gnädige Frau « , sagt Pawel und reicht ihr den Umschlag. Lilja ist auf das Klopfen hin ebenfalls erschienen und stellt sich neben Antonina.
» Ich hoffe, er ist nicht krank geworden « , sagt Antonina und geht mit dem Brief in den Musiksalon. Lilja folgt ihr und beobachtet, wie Antonina das starke Pergamentpapier auffaltet, im Briefkopf prangt das königliche Wappen der Bakanews. Sie liest und setzt sich, und das Blatt gleitet in ihren Schoß.
» Was ist, Tosja? « , fragt Lilja und kniet sich vor Antonina hin, die Falte zwischen den Augenbrauen noch tiefer als sonst.
Antonina faltet das Blatt wieder zusammen und steht auf. » Ich gehe in mein Zimmer, Lilja. Und ich will nicht gestört werden. «
Lilja springt auf, legt ihre Hand auf Antoninas Unterarm. » Sind es schlechte Nachrichten? Ist er krank – Kropotkin? «
Antonina sieht Lilja ins Gesicht. » Sein Name ist Herr Kropotkin, Lilja. Und nein, er ist nicht krank. Er musste das Gut verlassen. «
Lilja erwidert ohne zu blinzeln Antoninas durchdringenden Blick. » Und was ist mit dem Unterricht der Kinder? «
Antonina neigt den Kopf zur Seite. » Du machst dir Sorgen um den Unterricht der Kinder auf dem Gut der Bakanews, Lilja? «
Lilja hält ohne zu blinzeln Antoninas forschendem Blick stand. » Ich weiß, wie viel dir die Besuche von Kr… Herrn Kropotkin bedeutet haben, Tosja. Tut mir leid, dass dich seine Abreise so enttäuscht. «
» Wie kommst du zu dem Schluss, dass er abgereist ist? Ich habe nur gesagt, dass er vom Gut wegmusste, nicht aber, dass er aus Pskow abgereist ist. «
» Ich dachte nur … «
» Danke, dass du dir so viele Gedanken machst. « Mit kerzengeradem Rücken geht Antonina hinaus und lässt Lilja neben dem erlöschenden Feuer und dem erkaltendem Tee im Musiksalon stehen.
In ihrem Zimmer, endlich Lilja und ihren Fragen entronnen, liest Antonina den Brief ein weiteres Mal.
Verehrte Gräfin Mitlowskaja,
es ist uns zu Ohren gekommen, dass Walentin Wladimirowitsch Kropotkin Ihnen regelmäßig Besuche abstattete.
Da Herr Kropotkin unser Angestellter war, fühlen wir uns in gewissem Sinn für sein Tun verantwortlich. Als ehemaliger Leibeigener hat Herr Kropotkin sich höchst unangebracht verhalten.
Der Prinz und ich bitten Sie um Verzeihung für sein unerhörtes Benehmen. Offensichtlich hat er Ihre Sanftmut und Gutherzigkeit ausgenützt. Außerdem nehmen wir an, dass Sie sich noch immer in einem Zustand tiefster Verwirrung befinden – es ist verständlich, dass die schlimmen Schicksalsschläge, die Sie in den vergangenen Monaten erleiden mussten, einen gehörig aus der Bahn werfen können.
An diesem Morgen erhielt Herr Kropotkin einen schriftlichen Verweis und wurde entlassen, und wir werden dafür sorgen, dass er nicht ungestraft mit seinem Verhalten davonkommt. Da wir ihm kein gutes Charakterzeugnis ausgestellt haben, dürfte er schwerlich eine neue Stelle in Adelshäusern der Provinz Pskow finden, und hoffentlich auch über deren Grenzen hinaus.
Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es für alle Beteiligten am besten wäre, wenn Sie den gesellschaftlichen Kreis von Pskow für eine gewisse Zeit meiden würden, um die Auswirkungen dieses unglücklichen Vorfalls möglichst gering zu halten.
Mit Gottes Segen
Prinzessin Jewgenija Stepanowna Bakanewa
Antonina geht eine Stunde lang auf der Veranda auf und ab, bis die Dämmerung einsetzt. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrt, begegnet sie Lilja, schenkt ihr aber keine Beachtung. Als diese unablässig und hartnäckig an die verschlossene Tür klopft, befiehlt sie ihr, sich zu entfernen.
Als es dunkel wird, legt Antonina ein paar Holzscheite nach, zerknüllt den Brief und wirft ihn in die Flammen. Dann nimmt sie die Wodkaflasche aus ihrem Kleiderschrank und legt sich mit Tinka an ihrer Seite ins Bett.
Es ist schon nach acht Uhr, als Walentin plötzlich in Angelkow auftaucht.
Pawel ist auf dem Stuhl vor dem Küchenherd eingeschlafen, und in Antoninas Zimmer ist es schon seit Stunden still.
Als Lilja das wütende Gebell der Hunde hört, geht sie zur Tür, öffnet sie und späht in die Dunkelheit hinaus. Walentin steigt die Verandastufen empor und tritt in den Schein der Lampe, die Lilja in der Hand hält.
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