Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Verhalten. Wieder ist sie betrunken, und wieder ist ihr Betragen verabscheuungswürdig. Sie legt die Hände an seine Brust und zieht ihr Gesicht zurück.
Noch immer hält er sie locker mit seinen Armen umfasst.
» Tut mir leid « , sagt er. » Bitte, verzeihen sie. Sie sind so schön und so traurig. Ich will … bitte. Ich würde Ihren Schmerz so gern lindern. Ich weiß, mein Benehmen ist unentschuldbar, aber ich habe mich hinreißen lassen. Weil Sie so hinreißend sind. «
Sie fasst sich an die Lippen, dann an den Hals. » Ich … es ist genauso meine Schuld. Alles ist so verwirrend für mich. Ich kann immerzu nur an meinen Sohn denken « , sagt sie, obwohl sie weiß, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Manchmal, wenn sie an Grischa denkt, vergisst sie Michail für einen flüchtigen Moment. Grischa beansprucht so viel Raum mit seiner Präsenz, wenn er ein Zimmer betritt, und genauso füllt er ihren Geist aus.
Walentin hält sie noch immer locker umfangen. Antonina ist sich bewusst, dass sie sich aus seiner Umarmung lösen müsste.
» Ich wüsste nicht, wer meinen Jungen finden könnte « , sagt sie. Wieder denkt sie an Grischa. Er hat als Einziger Kontakt mit den Entführern gehabt. » Wer immer mir meinen Jungen zurückbringt, Walentin, kann sich sein Leben lang meiner Liebe und Dankbarkeit sicher sein. «
Ein dumpfer Schlag ist zu hören.
Antonina weicht erschrocken von Walentin zurück und blickt zur Tür. Dort steht Lilja, zwei Holzscheite auf dem Arm, drei liegen auf dem Boden zu ihren Füßen, wo sie sie hat fallen lassen.
Bestimmt steht Lilja schon länger in der Tür, denkt Antonina, und hat gesehen, wie Walentin sie in den Armen hielt. Hat sie auch den Kuss gesehen? Jedenfalls hat sie gehört, was Antonina soeben zu ihm gesagt hat.
» Entschuldigung, gnädige Frau « , sagt Lilja und beugt sich hinab, um die Scheite aufzusammeln.
Wer immer mir meinen Jungen zurückbringt, kann sich sein Leben lang meiner Liebe und Dankbarkeit sicher sein, wiederholt Lilja in Gedanken. Sein Leben lang.
Genau das, was sich Lilja schon immer von Antonina gewünscht hat.
VIERUNDDREISSIG
A m nächsten Tag ruft Lilja Grischa erneut zu sich. Diesmal gibt es keinen Wodka und keine Knabbereien. Kaum ist er durch den Hintereingang in die Küche getreten, nickt sie in Richtung der Speisekammer. Dort sagt sie zu ihm: » Wir müssen etwas unternehmen. «
» Sag mir, wie es gestern Abend war « , sagt Grischa. Ohne ihre Antwort abzuwarten, fügt er hinzu: » Hat er hier übernachtet? «
» Der Kutscher der Bakanews hat den ganzen Abend in der Küche gewartet, um Kropotkin zurückzubringen « , erzählt sie. » Er hat also nicht die Kälte vorschieben können, um hierzubleiben. « Sie forscht in Grischas Gesicht, aber sein Ausdruck verrät ihr nichts. » Wie auch immer, der Kutscher hat mir erzählt, dass Kropotkins Anstellung noch ziemlich lange dauern könnte. « Sie lehnt sich an ein Regal und verschränkt die Arme vor der Brust.
Grischa bemerkt, dass Lilja eine andere Frisur hat. Sie hat es hinten hochgesteckt und vorn ein paar Locken gekürzt, die lose herabhängen und ihr Gesicht umrahmen. Offensichtlich will sie die gleiche Frisur haben wie Antonina. » Und? « , sagt er.
» Die Schwester der Prinzessin hat beschlossen, den Winter auf dem Gut zu verbringen. Das bedeutet, dass Kropotkin als Musiklehrer ihrer Kinder ebenfalls bleiben wird. «
» Bis zum Frühjahr? «
Lilja zuckt die Schultern. » Wer weiß? Vielleicht sogar bis zum Sommer. Du kennst ja diese Leute; sie tun, was ihnen gefällt. « Sie hebt die Hand und befühlt ihr Haar. » Wie du siehst, ist Kropotkin schon ein regelmäßiger Besucher auf Angelkow. Und es sieht so aus, als würde er noch lange in der Gegend bleiben. Jedenfalls lange genug, wenn du weißt, was ich meine. «
Grischa mustert eindringlich ihr Gesicht, als wollte er ihre Worte lesen, noch ehe sie sie ausspricht.
» Wenn doch nur … « Sie lässt den begonnenen Satz unbeendet.
» Wenn was? «
» Wenn es eine Möglichkeit gäbe, Antonina vor diesem unmoralischen Einfluss zu beschützen. Aber was können wir tun? Wir werden untätig abwarten müssen, was geschieht. Zusehen müssen, wie er die Gräfin verführt. « Lilja schweigt und beobachtet, welche Wirkung ihre Worte entfalten.
Grischa klaubt einen Apfel aus einem offenen Sack in einem Regal. Abwesend streicht er mit dem Daumen darüber und verlässt die Speisekammer.
Lilja folgt ihm. » Grischa! « Als er nicht antwortet, ruft
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