Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sie: » Antonina verdient es, geliebt zu werden. Aber dieser Mann will sie ja nur benutzen. «
Ihre Worte lassen ihn innehalten. Er dreht sich zu ihr um und wirft den Apfel auf den Küchentisch. Während Grischa zur Tür hinausgeht, rollt er zur Tischkante und fällt auf den Boden.
Lilja befühlt erneut ihr Haar. Wenn sie Michail Konstantinowitsch zu Antonina zurückbringt, wird die Gräfin ihr ihre ganze Liebe schenken. Denn das hat sie doch zu Kropotkin gesagt: Wer immer mir meinen Sohn zurückbringt, kann sich sein Leben lang meiner Liebe und Dankbarkeit sicher sein.
Während Antonina im Musiksalon Klavier spielt, kommt Lilja mit einem Teetablett herein.
Antonina unterbricht ihr Spiel und beobachtet über die Schulter, wie Lilja das Tablett auf dem Tisch abstellt. » Hast du immer noch nichts von Soso gehört, Lilja? Und du hast wirklich keine Ahnung, wo er ist? «
Warum erkundigt sich die Gräfin ausgerechnet jetzt nach Soso, kurz nachdem sie ihn getroffen hat?, fragt sich Lilja. Ist es reiner Zufall?
» Nein « , sagt sie bloß.
Antonina sieht sie eindringlich an. » Vermisst du ihn? «
» Nein, mein Leben ist besser ohne ihn. « Sie stellt die Tasse mit der Untertasse und den Gebäckteller auf den Tisch. » Er hat zu viel getrunken und war grob zu mir, mit Worten und mit Fäusten. «
Antonina sieht sie betroffen an. » Hast du ihn denn irgendwann einmal, vielleicht zu Beginn eurer Ehe, gerngehabt? «
Lilja zuckt die Achseln. » Er hat hart gearbeitet, das muss man ihm lassen. Und er hat Ljoscha nie geschlagen, obwohl es ihm nicht recht war, dass er bei uns gewohnt hat. «
» Mehr nicht, Lilja? «
Lilja starrt sie an. » Ich habe es dir schon mal gesagt, Tosja, ich habe noch nie einen Mann geliebt. «
» Aber das ist furchtbar traurig, Lilja. «
» So, findest du? « , erwidert Lilja mit herausfordernder Miene. » Trifft das Gleiche nicht auch für dich und den Grafen zu? Sind du und ich nicht gleich? «
Antoninas Augen weiten sich. » Wir beide – gleich? «
» Keine von uns wird je einen Mann richtig lieben « , sagt Lilja. Sie will, dass Antonina ihr zustimmt, will, dass sie endlich begreift, wie es für sie, Lilja, ist. Und wie es für Antonina sein könnte, wenn sie es sich nur endlich eingestehen würde.
Am ersten November bereitet sich Antonina auf Walentins Besuch vor.
Sie denkt an Jakowlews Rat, Anfang dieses Monats wenigstens einen kleinen Teil ihrer Steuerschuld zu begleichen. Aber sie kann nicht einmal ein paar Rubel aufbringen. Wie lange wird es noch dauern, bis Beamte an ihrer Tür erscheinen und drohen, ihr das Gut wegzunehmen? Sie nimmt sich vor, mit Grischa zu reden, ob sie vielleicht ein paar Antiquitäten verkaufen kann. Bestimmt weiß er, was zu tun ist, um nach und nach jene Möbelstücke zu veräußern, die den höchsten Preis erzielen.
Um sich von ihren Sorgen abzulenken, übt sie Chopins Nocturne Nr. 20. Sie hat vor, es Walentin vorzuspielen. Und sie hat sich vorgenommen, während seines Besuchs weder Wein noch Wodka zu trinken. Nein, diesmal wird sie nichts trinken.
Um zwei Uhr nachmittags, zur gewohnten Uhrzeit, zu der er immer kommt, knistert im Musiksalon ein behagliches Feuer, und der Samowar samt Teekanne und Tassen stehen bereit. Aber von Walentin ist noch nichts zu sehen. Antonina geht die Treppe hinauf zum Fenster am Treppenabsatz, um Ausschau nach ihm zu halten. Sie sucht die Auffahrt mit den Augen ab und betrachtet den blauen Himmel. Alles ist friedlich und still, als würde sich die Natur auf den langen Winter vorbereiten. Trotz der Zeichen des Verfalls und Niedergangs, die allerorten sichtbar sind, erkennt sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Schönheit dieser Landschaft. Erneut drängen sich die Gedanken an die zu bezahlenden Steuern in ihr Bewusstsein. Wird dies ihr letzter Winter auf Angelkow sein? Sofort muss sie an Michail denken. Im Winter neigt er zu Erkältungen und Halsentzündungen. Wer wird ihm dann heiße Milch mit Honig und Butter einflößen? Wer wird seine Füße in heißem Senfwasser baden?
Der Gedanke, dass sich niemand um ihn kümmern wird, ist ihr unerträglich. Und schon ist der Wunsch nach einem Glas Wodka wieder da.
Sie wirft einen Blick auf die zierliche Uhr, die an ihrem Mieder befestigt ist. Walentin hätte schon vor einer knappen Stunde hier sein sollen. Als sie erneut aus dem Fenster schaut, sieht sie einen Reiter weit entfernt auf der Straße und nickt erleichtert. Da ist er ja. Doch als der Reiter näher kommt,
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