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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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beiden Männer stehen sich in Grischas Haus gegenüber. Walentin hat Grischas Brief in der Hand. Bitte kommen Sie zu mir nach Hause, sobald Sie diesen Brief erhalten. Wir müssen reden. Ich kenne Sie von früher.
    Grischa nimmt die swirel vom Regal. » Was bedeutet diese Flöte für Sie, Kropotkin? « , fragt er und reicht sie ihm.
    Walentin steckt den Brief in seine Tasche und zeichnet mit dem Finger den eingravierten Namen nach. » Ich habe kurz darauf gespielt, als ich Ihnen den Brief an die Gräfin dagelassen habe « , sagt er.
    » Nichts weiter? Erinnert Sie sie nicht vielleicht an eine andere Zeit? «
    » Eine andere Zeit? Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Was wollen Sie mir sagen, Naryschkin? «
    Grischa schluckt und nimmt Walentin sanft die Flöte aus der Hand. » Ich habe die swirel mitgenommen, als ich von zu Hause wegging. Als ich Tschita verließ. «
    » Ich kenne Tschita nicht. «
    » Ein Ort in Sibirien, er liegt ein gutes Stück östlich von Irkutsk. «
    Walentins Gesicht spiegelt keine Gefühlsregung.
    » Ich habe sie von meinem kleinen Bruder « , fährt Grischa fort. » Er hat meinen Namen hineingeritzt und sie mir an meinem Namenstag geschenkt. Er war erst acht und spielte schon Geige, als hätte er es im Himmel gelernt. « Grischas Gesicht ist blass. » Wenn er Geige spielte, sah er Gold. Eines Tages wurde er von einem Dirigenten mit einem Trupp Musiker mitgenommen, um ebenfalls zum Musiker ausgebildet zu werden. «
    Walentins Brust hebt und senkt sich. » Ich kann mich nicht an meine Kindheit erinnern. «
    » An gar nichts? «
    » Doch, an Glocken. « Er schluckt. » Kirchenglocken. Und andere Klänge, an Becken, glaube ich. «
    » Tibetische Klangbecken. «
    Walentin wischt sich mit der Hand über die Stirn. » Ein Glas Wasser, bitte, Naryschkin. «
    » Du erinnerst dich an die Beckenklänge in dem buddhistischen Tempel, den wir mit unserer Mutter besuchten. «
    » Unsere Mutter? «
    » Ja, Kolja. «
    Walentin setzt sich und starrt Grischa ungläubig an.
    Grischa nickt. » Kolja. Dein Name war Kolja. Und ich war Tima. Ich bin Tima, dein Bruder Tima. «
    Walentin sieht Grischa mit offenem Mund an. Sein Atem geht stoßweise, sein Gesicht überzieht sich mit roten Flecken. » Du bist … warte « , sagt er, steht auf und streckt die Hände aus, als wollte er die Zeit aufhalten.
    Plötzlich fliegt die Tür mit solcher Wucht auf, dass sie gegen die Wand schlägt. Es ist Lilja mit Ljoschas Gewehr in den Händen. Sie zielt auf Walentin.
    Walentins Blick gleitet von ihr zu Grischa und wieder zu Lilja zurück, ein verwirrter Ausdruck liegt auf seinem Gesicht. Grischa erfasst auf Anhieb die Situation, doch ehe er etwas tun kann, zerreißt ein gewaltiger Knall die Luft.
    Walentin fliegt mit aufgerissener Brust nach hinten. Er prallt gegen das Sofa und fällt zu Boden.
    Antonina hört den gedämpften Gewehrschuss aus der Ferne. Sie blickt zum Fenster. Draußen dämmert es. Ljoscha wird um diese Zeit doch nicht mehr jagen, denkt sie. Es ist zu dunkel, um auf ein bewegliches Ziel zu schießen.
    Als Ljoscha Grischas Haus betritt, keuchend, weil er den ganzen Weg gerannt ist, nachdem er den Schuss hörte, kniet Grischa auf dem Boden und hält den Musiker in den Armen. Er presst ein blutgetränktes Laken an die Brust des Mannes. Lilja kauert an der offenen Tür, als hätte sie jemand dort hingestoßen. Ihre Augen sind schreckgeweitet. Das Gewehr, an dem getrocknetes Hasenblut klebt, liegt neben ihr auf dem Boden. Immer wieder bekreuzigt sie sich zwanghaft und flüstert Gebete, während sie den Verletzten anstarrt.
    Ljoscha fasst sich mit beiden Händen an den Kopf. Alles ist voller Blut. Es sieht aus wie … als hätte Lilja den Musiker erschossen. Und Grischa … warum hält er den Mann in seinen Armen, als wäre er ein geliebter Mensch? Während er verzweifelt tröstende Worte murmelt, drückt er den Kopf des Mannes an seine Brust, das Gesicht vor unglaublichem Schmerz verzerrt.
    Lilja zittert heftig, und als Ljoscha sie ansieht, sagt sie flüsternd zu ihm: » Gestern Nacht habe ich eine Eule gehört. Da wusste ich, dass heute etwas Schreckliches passieren würde. « Sie sagt es, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen. Und dann fährt sie fort, sich zu bekreuzigen und wie im Rausch ihre Litaneien aufzusagen: Vergib mir, Gott im Himmel, vergib mir, vergib mir, himmlischer Vater, vergib mir.
    Ljoscha fällt auf die Knie. Noch immer hält er sich mit beiden Händen den Kopf. Heilige Mutter Gottes.

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